Das giftige Erbe des "politischen Tschernobyl"

Der Kollaps der UdSSR vor 20 Jahren kam für die meisten überraschend. Aber es gab auch einen, der das Ende prophezeit hatte.

Wann immer in einem neuen Buch oder Aufsatz über ein geschichtliches Thema Sensationen angekündigt werden, die zu einer völligen Neuinterpretation der Ereignisse zwängen, sei dem Leser höchste Vorsicht empfohlen. Denn allzu oft ist es noch nicht passiert, dass ein neu aufgetauchtes Dokument oder ein Zeuge durch Inhalt und Aussage eine alternative Sicht der Dinge erzwingen. Freilich, es ist schon vorgekommen.

Dennoch: Wenn das US-Magazin „Foreign Policy“ auf der Titelseite seines Sommerheftes in die Welt hinausposaunt „Alles, was Sie über den Kollaps der Sowjetunion zu wissen glauben, ist falsch“, kann das nur Erstaunen und Neugier auslösen. Liest man dann den entsprechenden Aufsatz von Leon Aron vom „American Enterprise Institute“, kommt rasch die Einsicht, dass auch Herr Aron nur mit Wasser kocht. Am Anfang verweist er auf die Tatsache, dass „praktisch kein früherer Sowjetunion-Experte den drohenden Zusammenbruch der Sowjetunion vorausgesehen hat“.

Aron erwähnt dabei auch das wegweisende Sonderheft „Der seltsame Tod des sowjetischen Kommunismus“ der Zeitschrift „The National Interest“ vom Frühjahr 1993, in dem sich führende amerikanische Sowjetexperten selbstkritisch mit ihren Analyse- und Prognosefähigkeiten in Bezug auf die UdSSR auseinandergesetzt hatten. Hätte Aron dieses Heft genau nachgelesen, wäre er auf einen dort nachgedruckten Artikels des britischen Journalisten Bernard Levin gestoßen. Der hatte bereits im August 1977 in der „Times“ den Untergang der Sowjetunion als unausweichlich beschrieben; auch mit dem von ihm genannten Datum für den nahenden Umsturz – Juli 1989 – bewies er erstaunlichen Weitblick.

Aron jedenfalls, der in Zusammenhang mit dem Sowjetkollaps eigenartigerweise wiederholt von „Revolution“ schreibt (Revolutionen gab es zwei in Russland: 1905 und im Februar 1917; die Oktoberrevolution 1917 war ein Putsch von Lenins Bolschewisten und der August 1991 war erneut ein Putsch von Altkommunisten) bringt keinerlei neue Erkenntnisse. Dafür enthält das Heft zwei weitere höchst lesenswerte Beiträge: den Erlebnisbericht von Gennadij Burbulis, einem engen Vertrauten von Boris Jelzin, über die Augustereignisse; und das kritische Porträt von Michail Gorbatschow aus der Feder der amerikanischen Starkolumnistin Anne Applebaum.

Burbulis schließt seine Darstellung mit einem interessanten Gedanken: Seiner Meinung nach hätte die Sowjetunion ohne den Augustputsch weiter existieren und sich allmählich sogar zu einer Konföderation souveräner Staaten nach dem Modell der EU entwickeln können. Der Pusch sei dann „zum politischen Tschernobyl des sowjetischen totalitären Imperiums geworden“, der das Land auseinandergerissen und gerade in Russland die Menschen nachhaltig „vergiftet“ hätte: was sich in ihrer Nostalgie für Stalin und „sowjetische Stabilität“, in weit verbreiteter Xenophobie und Intoleranz, im mangelnden Respekt für die Menschenrechte, in wuchernder Korruption und im imperialen Gehabe „mancher unserer Politiker und vieler unserer Bürger“ zeige.

Übrigens, nicht nur der jetzige russische Premier hält den Untergang der Sowjetunion für eine geopolitische Katastrophe, laut Wladimir Putin sogar „die größte des 20. Jahrhunderts“. „Der Spiegel“ zitierte in einer Serie zum Geschehen vor 20 Jahren aus dem Protokoll eines Gesprächs zwischen Gorbatschow und dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl im Juli 1991. Kohl damals wörtlich: „Das Zerbrechen der Sowjetunion würde zu einer Katastrophe für alle. Wer darauf setzt, gefährdet den Frieden.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2011)

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