Kommentar: Wer die Schuld trägt

Krems. Dass sich jeder fragt, wer für den Tod eines 14-Jährigen die Verantwortung trägt, ist menschlich. Sie der Polizei anzuhängen ist dumm, dem Toten selbst zynisch. Die Wahrheit ist unbefriedigend.

Es liegt in der problematischen Natur des Menschen, sofort nach einem Schuldigen zu suchen, um ein verstörendes Ereignis psychisch zu bewältigen. Das gilt für ein Schneechaos auf der Autobahn genauso wie für den tödlichen Polizeieinsatz in einem Kremser Supermarkt. Die Emotionalität des Ganzen bringt es mit sich, dass diese Schuldsuche oft etwas Blindwütiges an sich hat, wenn auch gerade diese Blindwütigkeit im Fall Krems auf etwas Positives hinweist: Das Erschießen eines 14-Jährigen mutmaßlichen Kleinkriminellen kann uns noch erschüttern. Aber zurück zur Hauptfrage: Wer ist nun also der Schuldige, wer ist zu kreuzigen?

Die beiden Polizisten? Ihre Schuld wird untersucht werden. Dass die Polizei so lange braucht, um dazu Fakten auf den Tisch zu legen, macht keinen schlanken Fuß, ist aber noch kein Schuldspruch.

Die Schießwütigkeit der Polizei? Rund 120-mal macht die Exekutive pro Jahr von der Waffe Gebrauch. Im Schnitt feuert also ein österreichischer Polizist einmal alle 216 Jahre seine Dienstwaffe ab. Wenn Peter Pilz meint, die Sache „schreie nach weitreichenden Konsequenzen“, sollte er bedenken, dass die Schießerei in Krems eben nicht typisch für den Stil unserer Polizei ist.

Die Politiker? So argumentiert ein Kolumnist der „Kronen Zeitung“: Für ihn sind Pilz und seine „seit Jahren betriebene Gutmenschenpolitik“ mit schuld an der Tragödie, weil die beiden Polizisten wegen der explodierenden Kriminalität ja „tschetschenische Killer oder weißrussische Rambos“ befürchten mussten. Brutalitäten aus dieser Klientel sind in Österreich allerdings nach wie vor nicht Polizeialltag und machen daher auch wenig Angst. So nervenflatternde Seicherln sind unsere Polizisten auch wieder nicht.

Selber schuld? Auch das hört man dieser Tage sehr oft: Erschossen zu werden sei halt das Berufsrisiko des Einbrechers. „Wer in Niederösterreich was anstellt, der muss eben auch mit dem Schlimmsten rechnen“, so zitierte die „Kronen Zeitung“ Landeshauptmann Erwin Pröll vor einem Jahr, als ein Motorraddieb erschossen wurde. Der Dieb verwirkt also mit der Tat auch sein Recht auf Leben, jedenfalls das auf die Verhältnismäßigkeit der von der Exekutive eingesetzten Mittel. Und außerdem: ein bloß 14-Jähriger? Ein halbes Kind? Nichts da, „wer alt genug zum Einbrechen ist, ist auch alt genug zum Sterben“, schreibt der schon erwähnte Kolumnist. Das ist ein seltsames Prinzip: dass die Tat den Täter voll zurechnungsfähig macht. Wer einbricht, ist also erwachsen und aus. Dabei erkennt doch unsere Rechtsordnung seit Langem jugendlichen Tätern mildernde Umstände zu. Zu Recht, wie die Hirnforschung zeigt: Bei Pubertierenden erfährt das Hirn einen Umbau, in dessen Verlauf wesentliche Funktionen wie etwa das Erkennen von Risken oder die Kontrolle der Emotionen beeinträchtigt sind.

Die Eltern? Dass der Sohn um zwei Uhr früh im Merkur-Markt statt zuhause ist, hätten die Eltern wohl mit rigorosen Kontrollen und einem Vorhangschloss verhindern können. Hätten sie das sollen? Und tragen sie damit die Verantwortung für seinen Tod?

Und wenn niemand der große Schuldige ist, weder die Polizei noch das Täter-Opfer, weder die Eltern noch die Gesellschaft, nicht einmal der Kryptofaschismus der Österreicher, der sonst gerne apostrophiert wird? Vielleicht reagierten einfach die zwei Polizisten, als sie bei etwas, was sie für eine Routinenachschau hielten, im Dunkeln attackiert wurden, panisch. Das kann auch das beste Training dem Menschen nicht verlässlich abgewöhnen, denn seine Hormone sind auf Angriff programmiert, wenn eine plötzliche Gefahr aus einer kurzen Distanz kommt, die eine Flucht nicht mehr zulässt. Ein einzelnes, untypisches Zusammenspiel vieler Umstände – das ist freilich eine unattraktive Denkvariante, weil uns Zuschauern dann nur die Erschütterung bleibt; und die emotionale Befriedigung durch Schuldzuweisung, ja selbst die Bewältigungsstrategie „Wenigstens haben wir für die Zukunft etwas daraus gelernt“ bleiben verschlossen. Es braucht offenbar eine gewisse Größe, deswegen nicht frustriert zu sein.

("Die Presse" Printausgabe vom 08. August 2009)

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