Glosse

Tränen unter Glas

Unter dem dicken Glasboden zu meinen Füßen reckt gerade ein blasser, dünner, junger Mann seine Faust nach oben, drückt mit ihr ans Panzerglas, das uns voneinander trennt, bis die Knöchel hervorkommen.

Eine blasse, dünne, junge Frau läuft ebenfalls hinter Glas wie im Irrenhaus von einer Wand zur anderen. Draußen laufen die Dobermänner herum, bewachen diesen Pavillon des stillen Menschengrauens, zwischen KZ, Leichenschauhaus und Labor angesiedelt. Gestern, Samstag, hat dieser deutsche Beitrag zur gerade angelaufenen Biennale Venedig den Goldenen Löwen dafür bekommen. Der Song Contest der bildenden Kunst ist somit entschieden. Eine absehbare Wahl.

Neben allem, was man an Pathos und Deutschtum hier kritisieren kann, hat die junge Anne Imhof vor allem einen Nerv unserer Zeit getroffen – die sensitive Glasoberfläche, das Display unserer Mobilgeräte, unter dem sich mittlerweile alle Dramen unseres Lebens abspielen, die wir mehr streicheln und auf die wir mehr Tränen vergießen, als wir das im direkten Miteinander noch zulassen. Die Jury hatte gar keine andere Wahl. I like. Oder so.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2017)

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