Medikamente für die Parteisekretäre

Die Parteien werden gegen das Mehrheitswahlrecht sein. Logisch: Das Mehrheitswahlrecht ist gegen die Parteien.

Die gegenwärtigen Ränkespiele, Intrigen und Skandale rund um das Innenministerium werden von Kritikern gern als Argument gegen das Mehrheitswahlrecht angeführt: Da sehe man nun, sagen sie, was herauskommt, wenn eine Partei allein regiert. Da würden Allmachtsfantasien in die Tat umgesetzt, es würde drübergefahren, Beamte würden vor den Karren der Partei gespannt, weil kein Regierungspartner als Kontrollor fungiere.

Mit einiger Sicherheit ist das Gegenteil der Fall: Wenn zwei große Parteien miteinander regieren, wird jede in ihrem Einflussbereich versuchen, die Apparaturen des Staates bis an die Grenzen des Zulässigen für die Zwecke der Partei einzusetzen. Statt transparenter Kontrolle wird ein Gleichgewicht des Schreckens etabliert.

Klare Zuschreibung von Verantwortung: Das ist eines der wesentlichen demokratiepolitischen Argumente für ein Mehrheitswahlrecht. Wäre die SPÖ heute nicht in der Großen Koalition mit der ÖVP gefangen, sie würde in der „Causa Haidinger“ ganz anders agieren. Nehmen wir, obwohl das längst nicht belegt ist, einmal an, die Vorwürfe des Herwig Haidinger träfen zu: Dann war die „Alleinregierung“ der ÖVP (so wurde die schwarz-blaue Koalition ja mehrheitlich wahrgenommen) möglicherweise ein zusätzlicher Anreiz zum Machtmissbrauch. Dass er in einer Alleinregierung stattfand und nicht in einer Großen Koalition, ist aber sicher der Grund dafür, dass er jetzt ans Licht kommt.

Noch wichtiger als im Negativen ist das Vorhandensein klarer Verantwortung aber im Positiven. Koalitionen zwischen Parteien, die in den Grundfragen der Politik stark divergierende Konzepte verfolgen, führen nur im Märchen zum vernünftigen Kompromiss. Im wirklichen Leben enden sie im Stillstand, das erleben die Deutschen derzeit genau so wie die Österreicher. Der an dieser Stelle übliche Zwischenruf „Aber die Schweizer!“ ist unangebracht: Die dortige Praxis der Konzentrationsregierung wäre erstens ohne die starke plebiszitäre Tradition nie denkbar gewesen und erlebt zweitens trotz dieses Gegengewichts derzeit eine schwere Krise.

Nein, ein Mehrheitswahlrecht schützt nicht vor politischem Machtmissbrauch und Korruption. Aber es erleichtert die politische Aufklärung und Bewertung der Vorgänge. Nicht nur, weil es immer eine große Oppositionspartei gibt, die effiziente Kontrolle ausüben kann. Sondern auch, weil die Parlamente nicht mehr von Menschen bevölkert würden, die ihre politische und materielle Existenz Parteiapparaten verdanken, denen sie auch dann zu Diensten sein müssen, wenn das inhaltlich längst nicht mehr gerechtfertigt ist.

Das ist das zweite wesentliche Argument für ein Mehrheitswahlrecht: Es würde aus der herrschenden Parteiendemokratie eine parlamentarische Demokratie machen. Mit direkt gewählten Abgeordneten kann man nicht so umspringen wie mit dem Großteil der heutigen Parlamentarier, denen vor Abstimmungen mitgeteilt wird, was sie zu denken und wie sie zu stimmen haben. Das würde vermutlich die Profilierungsneurosen der Parteisekretäre weiter verschärfen, aber dieses Problem ließe sich zur Not pharmazeutisch lösen.


Die Chancen für die Umsetzung stehen freilich schlecht. Die Parteiapparate sind dagegen, weil sie wissen, dass sie entmachtet werden. Und die gegenwärtigen Parlamentarier sind dagegen, weil sie wissen, dass sie unter den Bedingungen eines persönlichkeitsbezogenen Mehrheitswahlrechts heute nicht im Nationalrat sitzen würden. Beide, die Parteien und die derzeit von ihnen alimentierten Mandatsinhaber, werden versuchen, über Umwege zu argumentieren: Rote und schwarze Abgeordnete werden ihre tiefe Besorgnis darüber zum Ausdruck bringen, dass die nächste Gesetzgebungsperiode möglicherweise ohne die wertvollen Beiträge des BZÖ auskommen müsste und mit weniger Grünen und Blauen als heute.

Darin liegt auch die Schwäche des von Klaus Poier entwickelten „minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts“: Es stellt – um den Preis einer extremen Verzerrung der Stimmenanteile – fast ausschließlich auf den Aspekt der Mehrheitsbildung ab. Tatsächlich geht es aber erst in zweiter Linie um die Verhinderung einer Großen Koalition. Hauptziel muss es sein, Menschen ins politische Spiel zu bringen, die nicht bereit sind, sich von Parteien und ihren Funktionären gängeln zu lassen.

Dazu eignet sich am besten das „klassische“ englische Wahlrecht: Wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereint, hat einen Sitz im Parlament.

Varianten des Mehrheitswahlrechts Seite 1
Josef Pröll im Interview Seite 2


michael.fleischhacker@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.