Wegschauen, hinschauen

Ein singuläres Verbrechen fasziniert uns. Es ist sinnlos, das durch Betroffenheitsprosa aller Art zu kaschieren.

Noch am Sonntagabend wurde in den Buchstabenwerkstätten des Landes die Betroffenheitsprosamaschine angeworfen. Hier empfahl man den Sozialbürokraten des Bezirkes Amstetten, „vor Scham zu versinken“, dort stellte man fest: „Es wird nicht möglich sein, nach diesem Fall zur Tagesordnung überzugehen. Ein ganzes Land muss sich fragen, was da eigentlich grundsätzlich falsch läuft.“

Was da grundsätzlich falsch läuft, lässt sich einerseits schwer sagen und ist andererseits ziemlich uninteressant. Es ist in erster Linie eine Hilflosigkeitsfloskel, die zum Einsatz kommt, wenn die Faktenlage eine vernünftige Einschätzung nicht zulässt. Da wird dann nach der „gesamten Verfassung einer reichen, selbstzufriedenen Gesellschaft“ gefragt, in der es möglich sei, dass ein Vierteljahrhundert lang keiner merkt, was in der unmittelbaren Nachbarschaft vor sich geht.

Ob und in welcher Weise die lokale Sozialbürokratie in diesem Fall versagt hat, wird in der Tat noch zu klären sein. Mit der Frage nach dem, was da „grundsätzlich“ falsch läuft, sollte man allerdings vorsichtig sein. Vor allem dann, wenn man sie mit der Forderung verknüpft, dass der Staat und seine Sozialarbeiter sich ein wenig stärker in das tägliche Leben der Bürger einmischen sollten.

Wer, weil es sonst noch wenig zu reflektieren gibt, über die Wegschaugesellschaft zu fabulieren beginnt, wird nicht darum herumkommen, sich auch den einen oder anderen Gedanken über die Hinschaugesellschaft zu machen, die gegenwärtig doch unser größeres Problem ist. Am Ende bedingen die beiden einander?

Wenn man aber unbedingt etwas haben will, das grundsätzlich nicht stimmt, dann besorge man sich ein Band von der Montags-Pressekonferenz der ermittelnden Behörden. Die Live-Übertragung war dazu geeignet, Erschütterung auszulösen. Und zwar nicht nur über die Vorgänge im Keller des Beschuldigten, sondern auch und vor allem über die Vorstellung, die der Leiter des Landeskriminalamtes, der Staatsanwalt und der Bezirkshauptmann ablieferten vor den internationalen Fernsehkameras.

Wer will vom Leiter eines Landeskriminalamtes Einschätzungen über die „erhöhte sexuelle Potenz“ eines Verdächtigen? Wer will vom Leiter eines Landeskriminalamtes wissen, wie sich die Frau des Beschuldigten gefühlt haben könnte, als sie erfuhr, dass ihr Mann, mit dem sie sieben Kinder hatte, „mit der Tochter ein neues Leben“ begonnen hatte? Wer will von einem Bezirkshauptmann wissen, wie man sich fühlt, wenn man in ein solches Verlies geht – außer dem ORF?

Eine erste Antwort auf die Frage, was da grundsätzlich nicht stimmt, wäre also die: Wenn die höchsten Repräsentanten der zuständigen Behörden in ihren öffentlichen Auftritten Anzeichen von sekundärem Analphabetismus erkennen lassen, dann wäre es kein besonderes Wunder, hätten auch ihre Untergebenen nicht sofort alles verstanden, was es in diesem Fall zu verstehen gab. Aber das wissen wir noch nicht.

Was wir bereits wissen, ist, dass der mediale Opferschutz sich inzwischen eher zur Farce entwickelt. Man mag noch akzeptieren, dass die Polizei das unverpixelte Foto des Beschuldigten veröffentlicht, um über Hinweise aus der Bevölkerung in der einen oder anderen noch ungeklärten Frage (Wer hat beim Bau geholfen? Wie konnte die Versorgung funktionieren? Was passierte während der Abwesenheit des Beschuldigten?) weiterzukommen.
Warum aber das Landeskriminalamt (LKA) Niederösterreich an die Medien Bilder des Verlieses mit der Bitte um Veröffentlichung versendet, kann kein Mensch erklären. Außer, man ist sich inzwischen so sicher, dass die Tatortfotos der Sanitäranlagen, die keinen Menschen etwas angehen, illegal von der Behörde an die Medien gehen, dass man die Meute lieber gleich zu Beginn legal füttert.

Ja, Fälle wie dieser erzeugen ein hohes öffentliches Interesse. Wegen ihrer Ungeheuerlichkeit, wegen der Dichte des Bösen, aber auch wegen des wissenschaftlichen Interesses an Situationen, die man noch nie untersuchen hat können. Die holprige Betroffenheitsprosa, die ein prinzipielles Versagen der Gesellschaft herbeischreiben will und alle möglichen Schuldigen von der Volksschullehrerin des Vaters bis zum Unterabteilungsleiter des Bezirkssozialamtes finden will, ist ziemlich überflüssig:

Wir haben es ganz einfach mit einem singulären Verbrechen zu tun. Das fasziniert uns, und wir brauchen uns dafür nicht zu schämen – solange wir ein paar Regeln des Anstands gegenüber den Opfern einhalten.


michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2008)

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