Dekadent sind Westerwelles Gegner

Ein Umverteilungsskeptiker kann sich aussuchen, ob er lieber als Nazi oder als Stalinist denunziert werden will.

Die Sozialstaats- und Umverteilungsdebatte, die der österreichische Vizekanzler Josef Pröll Mitte Oktober mit seiner Forderung nach einem „Transferkonto“ vom Zaun brach, war ein laues Lüfterl gegen den Sturm der Entrüstung, den sein deutsches Pendant Guido Westerwelle dieser Tage zum selben Thema entfachte. Und naturgemäß kann die österreichische Debatte, was Gelehrsamkeit und Bildungsbeflissenheit angeht, mit dem Berliner Diskurs nicht annähernd mithalten. In Wien erreichte man den Gipfel der begrifflichen Kreativität mit der eher unsubtilen Wortprägung „Neidkonto“. In Berlin oszilliert der Dekadenzdiskurs zwischen Sallust, Nero und Sozialeugenik.

Guido Westerwelle schrieb in einem Gastbeitrag für „Die Welt“: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ Die Kanzlerin zeigte sich not amused, SPD-Chef Sigmar Gabriel, dessen Dekadenzverständnis aus offensichtlichen Gründen eher lukullisch als kulturphilosophisch grundiert ist, meinte, wenn Westerwelle Hartz-IV-Empfänger für dekadent halte, sei der Vizekanzler wohl selbst so etwas wie der Nero der deutschen Gegenwart. Der war zwar kein spätrömischer Kaiser, aber sicher dekadent. Die stets um politische Korrektheit bemühte „Süddeutsche Zeitung“ ließ sich zu der sarkastischen Bemerkung hinreißen, Westerwelles Dekadenzbesorgnis klinge fast so, „als sei die schwäbische Hausfrau in Versuchung, wie weiland römische Herrschergattinnen täglich in der Milch von 500 Eseln zu baden“.


Den Vogel schoss Blogger Andreas Kemper auf der Community-Website des verhaltensoriginellen linken Wochenmanifests „derFreitag“ ab: „Dekadenz war ein integraler Bestandteil der Sozialeugenik- und Rassenhygiene-Diskurse, die von der Mitte der 19. bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts vor allem in Deutschland die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik bestimmten.“ Um nicht einseitig zu wirken, gibt es, verbunden mit einem „Nicht genügend“ in Ideologiegeschichte, auch eines auf die linke Backe des Vizekanzlers: „Was Herr Westerwelle, der den ,Sozialismus‘ der derzeitigen Hartz-IV-Debatte anprangert, vielleicht nicht weiß: Die grausamsten Entscheidungen im Stalinismus wurden mit dem Begriff der Dekadenz begründet. Unnötig zu erwähnen, dass im Nationalsozialismus mit der Begründung von ,dekadenten Erscheinungen‘ Millionen von Menschen deportiert, verfolgt, verhaftet, gefoltert und ermordet wurden.“ Unnötig auch zu erwähnen, dass dort, wo die Nazikeule fröhlich neben der Stalinkeule baumelt, Thilo Sarrazin nicht weit ist: „Mit Sarrazins ,Lettre‘-Interview haben wir jedoch seit dem Spätsommer 2009 einen stabilen Sozialeugenik-Diskurs.“

Genau. Soll heißen: Wer in der deutschen und in der österreichischen Umverteilungspolitik ein problematisches, weil missbrauchsanfälliges Anreizsystem sieht, kann sich aussuchen, ob er lieber als Nazi oder als Stalinist denunziert werden will.


Wenn man Westerwelle aber schon ideen- und kulturgeschichtlich an die Wolle will, sollte man auch bedenken, in welcher Hinsicht er recht haben könnte. Und er hat vollkommen recht mit der Beobachtung, dass die Regierungen in Österreich und Deutschland ähnlich wie die spätrömischen Kaiser dazu übergegangen sind, sich angesichts kaum bewältigbarer äußerer Bedrohungen – man könnte sagen: Finanzierungsschwierigkeiten und robuster Migrantenströme – wenigstens den inneren Frieden durch ein Alimentationssystem zu erkaufen, das die Unzufriedenen ruhig stellt und einer neu etablierten Sozialbürokratie Macht und Einkommen verschafft.

Aber solche Polemik braucht es gar nicht. Wenn man Westerwelles überzogene Rhetorik beiseitelässt, kann und soll man möglichst vorbehaltlos über die Frage diskutieren, wie man den Webfehler der deutschen und der österreichischen Umverteilungspolitik, nämlich ein leistungsfeindliches Anreizsystem, korrigieren kann. Das bedeutet nicht, dass man jeden Sozialhilfeempfänger als potenziellen Betrüger denunziert und des Missbrauchs beschuldigt. Das Motiv, Bedürftige nicht bloßzustellen, mag edel sein, es führt allerdings in die Irre: Wer Bedürftigkeit intransparent halten will, fördert den Missbrauch. Und wer Missbrauch in Kauf nimmt, riskiert die Finanzierbarkeit der Leistungen für die wirklich Bedürftigen – und schürt erst recht die sozialen Konflikte, die er zu verhindern glaubt oder vorgibt.

Wer also meint, er könnte es sich leisten, Westerwelles im Kern zutreffende Kritik über eine moralisierte Dekandenzdebatte zu kippen, ist wirklich dekadent.


michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2010)

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