Mehr Wirtschaftsflüchtlinge könnten nicht schaden

Der Wunsch, seine ökonomische Lage zu verbessern, war schon immer das wichtigste Motiv für Wanderungsbewegungen. Mehr davon täte uns nicht schlecht.

Der Begriff gehörte zum Standardrepertoire der sogenannten Ausländerdebatten der frühen 1990er-Jahre, die Jörg Haider selig als Stimmengenerator dienten: „Wirtschaftsflüchtling“. Menschen, die nicht direkt der Folter entkommen waren, galten „nur“ als Wirtschaftsflüchtlinge. Damals, als das republikanische Österreich nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und dem Ausbruch des Jugoslawien-Krieges erstmals mit strukturellen Wanderungsbewegungen konfrontiert war, begann die Misere der österreichischen Migrations- und Integrationspolitik. Viel mehr als den Verweis auf die humanistische Haltung Österreichs im Zuge des Ungarn-Aufstandes 1956 hatten die Großkoalitionäre nicht zu bieten. Jedenfalls kein Konzept.

Kein Wunder: Der Wirtschaftsflüchtling repräsentiert eine Art von Mensch, die mit der österreichischen Mentalität eher nicht kompatibel ist. Er lässt das Gewohnte, auch wenn es vielleicht erträglich ist, zurück, weil er für sich und die Seinen mehr erreichen will. Er lässt sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang und auf einen Wettbewerb ein, in dem ihm nichts geschenkt wird. Wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg sind ihm wichtiger als arbeitsrechtliche Bestimmungen und leistungsmäßige Unauffälligkeit.

Der Migrant ist seit jeher ein Wirtschaftsflüchtling: Ausnahmslos alle Wanderungsbewegungen der Menschheitsgeschichte sind durch den Wunsch von Einzelnen oder Gruppen ausgelöst worden, die nach Möglichkeiten Ausschau gehalten haben, ihre ökonomischen Bedingungen zu verbessern. Unterschiedlich sind nur die Gründe dafür, dass die Lage am bisherigen Ort nicht mehr erträglich ist: klimatische Veränderungen, Kriege, staatliche Misswirtschaft, Diskriminierungen. Verbindlich geregelt hat man – und auch das ist sehr spät passiert– nur jenen Teil der Wanderungsbewegungen, die durch eine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben des einzelnen Wanderers ausgelöst werden: das Asylrecht.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die Erfindung von Wirtschaftsflüchtlingen, die nicht auch in der Ferne noch von den Mächtigen, die ihnen keine Chance zur freien wirtschaftlichen Entfaltung gaben, in ihrem Streben nach Glück behindert werden wollten. Das Wien der Jahrhundertwende war die Hauptstadt der mitteleuropäischen Wirtschaftsflüchtlinge. Dass die Finanz- und Wirtschaftskrise, die in Irland und in den südlichen Gegenden der Europäischen Union die schwerwiegendsten Auswirkungen hat, zu einer massiven Zunahme der Wanderungsströme geführt hat, ist eine natürliche Entwicklung.

Dennoch ist sie bemerkenswert, gerade aus österreichischer Sicht. Der portugiesische Jungakademiker, der sich im Rahmen der europäischen Freiheiten in Österreich um einen qualifizierten Job umsieht, muss sich nicht mehr als „Wirtschaftsflüchtling“ beschimpfen lassen. Er ist ja EU-Bürger. Sonst gibt es wenig, das ihn von dem begabten moldawischen Juristen unterscheidet, der in Österreich sein Glück versuchen will – und es um 1900 auch getan hätte. Die EU hat innerhalb ihrer Grenzen das wiederhergestellt, was die großen Wanderungsbewegungen der ersten großen Globalisierungswelle Ende des 19. Jahrhunderts ausgemacht hat: Bewegungsfreiheit.


Österreich hat keine vernünftige Zuwanderungspolitik, weil seine politischen Repräsentanten ein Problem mit dem Urmodell des Wanderers, des sogenannten Wirtschaftsflüchtlings, haben. Gewerkschafter und Arbeiterkämmerer fürchten seine Leistungsbereitschaft und arbeitsrechtliche Unsensibilität, Wirtschaftskämmerer undBauernpolitiker seine Wettbewerbsorientierung. Ost- und Südosteuropäer werden nicht aus rassistischen Gründen diskriminiert, sondern, weil man sie – noch – ungestraft diskriminieren darf.

Es ist ein gutes Zeichen, dass zugleich so viele junge, gut gebildete Menschen Österreich verlassen. Das zeigt, dass der allgegenwärtige Druck in Richtung Mittelmaß nicht flächendeckend wirkt. Je mehr junge Menschen sich den Verlockungen der Hacklerpensionsmentalität widersetzen, umso eher wird es diesem Land gelingen, einen entspannteren Umgang mit den Herausforderungen großer Wanderungen zu finden.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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