Revolutionen in den Zeiten der Verhausschweinung

Was kommt nach den Umstürzen in der arabischen Welt? Revolutionäre Massen, die sich im Facebook-Modus durch den Cyberroom wälzen? Oder doch die Islamisten?

Möglicherweise ist die Welt nicht ganz gerecht. In Nordafrika riskieren und verlieren junge Menschen ihr Leben, weil sie endlich auch das Leben führen wollen, das ihre Altersgenossen in den europäischen Komfortzonen zunehmend anödet. Fast alles, wofür die jungen Revolutionäre von Tunis bis Manama zu sterben bereit sind, finden die Wohlstandsverwahrlosten unserer Breiten gestrig: Mitbestimmung, politische Öffentlichkeit, kulturelle Formationen.

Wenn die „Generation 11“, die hinter den Facebook-Revolten der vergangenen Monate steht, wirklich so unideologisch ist, wie der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy meint, ist das eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich. Die gute Nachricht wird jeder leicht verstehen: Was für ein Glück, das sind nicht lauter kleine Osama bin Ladens. Wohl wahr, aber wie viele sie sind und wie repräsentativ für ihre Generation diejenigen sind, zu denen wir über das globale Netz Kontakt aufnehmen können, kann uns keiner sagen.

Womit wir bei der schlechten Nachricht wären. Eines der großen Probleme der gegenwärtigen Regime-Change-Prozesse ist, dass die stürzenden Diktatoren praktisch ohne Institutionen geherrscht haben. Libyen ist dafür ein gutes Beispiel. Gaddafi hat nicht einmal ein Präsidentenamt für sich beansprucht. Wo junge Menschen, die in erster Linie ihre individuellen Bewegungsspielräume vergrößern wollen, in ein institutionelles Vakuum vorstoßen, wird der Aufbau demokratischer Institutionen nicht leicht, auf jeden Fall aber langwierig sein.

Sollte Roys Analyse richtig sein, haben wir es mit einem Generationenkonflikt zu tun, der den Generationenkonflikt unserer Breiten exakt spiegelt.

In Tunis, Kairo, Bengasi und Manama gehen junge Muslime auf die Straße, die nicht wie ihre Eltern sein wollen. Sie haben die religiös grundierte und von autokratischen Regimes weiterkultivierte Ergebenheit ihrer Erzeuger in das Schicksal der Fremdbestimmtheit satt. Sie wollen weder für die arabische Nation eifern noch für die Sache Allahs sterben, sie wollen die Musik hören, von der sie wissen, dass sie auch in New York gehört wird, und sie drängen in die öffentlichen Räume, weil sie endlich sagen und schreiben wollen, was sie denken.

Die im Westen lebenden Altersgenossen dieser Revolutionäre in eigener Sache haben aus spiegelverkehrten Gründen die öffentlichen Räume verlassen. Ihnen hängt das angestrengte Dauerengagement ihrer umwelt- und friedensbewegten Elterngeneration zum Hals raus. Letztlich leben sie nur die Verhausschweinung der wilden 68er-Hunde, die ihre Eltern gewesen sein möchten, konsequent zu Ende. Ihre Öffentlichkeit ist der digitale Raum, der ideale Aufenthaltsort für Menschen, die sich intensiv austauschen wollen, auch wenn sie einander kaum etwas zu sagen haben.

Wenn, dann sind die Repräsentanten der „Generation 11“ im arabischen Raum nicht mit den Trägern des demokratischen Umbruchs in Europa 1989 zu vergleichen, sondern mit den „68er“-Revolutionären. 1989 haben jene triumphiert, die an die „Wiedervereinigung Europas“ glaubten und diesen Glauben über die Jahrzehnte des sowjetischen Terrors hinweg aufrechterhielten. 1968 hatten junge Leute aufbegehrt, denen es in den Häusern und Institutionen ihrer Elterngeneration zu eng und stickig geworden war.


Es wird interessant sein zu sehen, ob und wem es gelingen kann, dieses individualistisch grundierte revolutionäre Pathos ideologisch zu kanalisieren. 1968 war es die Linke. 2011 regiert die Angst, dass es die Islamisten sein werden. Roy sagt, dass diese Generation für keinerlei politische oder religiöse Ideologie anfällig sei. Ob man sich freuen soll, wenn es gar niemandem gelingt und sich die revolutionären Massen über längere Zeit im Facebook-Modus durch den Cyberroom wälzen?

Vielleicht müssen wir selbstkritisch feststellen, dass wir gar nicht mehr wissen, was wir denken sollen, wenn die uns so vertraut gewordene Angst vor der islamistischen Bedrohung abhandenkommt. Vielleicht haben wir aber auch recht, wenn wir darauf bestehen wollen, dass es Freiheit ohne Verantwortung auf Dauer nicht geben kann.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2011)

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