Es gibt auch für Gesamtschulgegner einen guten Grund, das Bildungsvolksbegehren zu unterschreiben: Es hilft, Kinder und Lehrer vor Politik und Lehrergewerkschaft zu schützen.
Jedes System, das so viele Einzelne betrifft und so weit in das Private greift wie das Schulsystem, hat drei ganz große Probleme. Erstens: Man muss ein System entwickeln, das zugleich für alle und für jeden Einzelnen funktioniert. Zweitens: Man könnte deshalb immer fast alles ganz anders machen und dafür gute Gründe finden. Drittens: Man hat es als Repräsentant des Systems mit Millionen von Experten zu tun. Wir waren schließlich alle selbst einmal Teil des Systems. Das macht Debatten über große Systeme so mühsam. Und es führt dazu, dass sich der Fokus der Debatte auf ungesunde Weise verschiebt: weg von der Frage, was dieses System eigentlich leisten soll, hin zu der Frage, wer seine ideologischen und ständischen Bedürfnisse besser befriedigen kann.
Darum schleudern Politik und Lehrergewerkschaft seit Jahren ihre Scheinargumente aneinander vorbei und einigen sich, wenn sie sich einigen, naturgemäß maximal auf Scheinlösungen. Die Neue Mittelschule, die Bildungsministerin Claudia Schmied als Ersatzdroge für ihr unstillbares Verlangen nach der Gesamtschule verabreicht bekommen hat, ist eine solche Scheinlösung. Geschaffen wurden Hauptschulen, die besser funktionieren, weil sie mit mehr Geld besser ausgestattet sind. Strukturell ist damit gar nichts gelöst.
Die Grundfrage nach dem inneren Auftrag eines Bildungssystems wird in Österreich aus Tradition auf die Frage Gesamtschule oder differenziertes Schulsystem verkürzt. Die Gesamtschulvertreter behaupten, dass ein System, das bis zum Ende der Schulpflicht ohne Differenzierung auskommt, das Begabungspotenzial in jeder Generation voll ausschöpfen kann. Die Verfechter der Differenzierung nach Schultypen schon im Alter von zehn Jahren behaupten, dass gerade durch ein System, das bis zum Ende der Schulpflicht ohne Differenzierung auskommt, die Entfaltung der unterschiedlichen Begabungspotenziale verhindert wird, weil es zu einer Nivellierung nach unten kommt.
Aufrechterhaltung von Mythen
Es ist empirisch nachgewiesen, dass beides nicht stimmt. Die Politik ignoriert diesen empirischen Befund, weil SPÖ und ÖVP es für bequemer und erfolgversprechender halten, ihrer jeweiligen Klientel die Aufrechterhaltung von längst widerlegten Mythen zu ermöglichen. Die SPÖ positioniert die Gesamtschule als unabdingbare Grundlage für Gerechtigkeit und Gleichheit, die ÖVP hält das Gymnasium als Garanten von Leistung hoch. Was in der Schule wirklich passiert, interessiert beide ungefähr so wenig wie die Lehrergewerkschaft: Die interessiert sich in erster Linie für Besoldungsfragen. Wichtig ist dann nicht, welches Kind in welcher Schulform die besten Entfaltungsmöglichkeiten hat, sondern, welcher Lehrer in welcher Schulform wie viel verdient.
Bei aller Kritik, die man an Volksbegehren im Allgemeinen und am derzeit zur Unterschrift aufliegenden Bildungsvolksbegehren im Besonderen üben kann, gibt es doch für jeden, dem an einer Verbesserung des österreichischen Bildungssystems liegt, einen entscheidenden Grund, es mit seiner Unterschrift zu unterstützen: Jede Unterschrift kann als Dokumentation des Willens interpretiert werden, Kinder und Lehrer vor der Politik und der Lehrergewerkschaft zu schützen. Jede Unterschrift drückt den Willen aus, Lehrern und Schülern die richtigen Rahmenbedingungen dafür zu geben, dass die Schule leisten kann, was sie leisten soll: jungen Menschen unter Rücksichtnahme auf ihre Begabungen die Möglichkeit zu geben zu wachsen und sich zu entfalten.
Die teils mit erschreckender Verbiesterung vorgetragene Forderung, es müsse endlich wieder Leistung in Form von überprüfbarem Wissen ins Zentrum der schulischen und universitären Ausbildung rücken, geht vollkommen ins Leere. Jeder, der Verantwortung für Organisationen und ihre Ergebnisse trägt, weiß das: Gute Ergebnisse in Form einer überprüfbaren Erreichung von Zielen – ob das nun ein in Geld gemessenes Betriebsergebnis oder in richtigen Antworten gemessenes Wissen ist – folgen nicht einer simplen Wenn-dann-Logik. Sie sind die natürliche Folge davon, dass den beteiligten Menschen Entfaltung und Selbstausdruck ermöglicht werden. Wer junge Menschen in ihrem Wachstum begleitet, wird auch messbare Leistungen bekommen. Wer meint, dass er ihre Leistungen verwalten kann, wird scheitern und sich ewig fragen, warum.
Unter dieser Perspektive verwandelt sich die Kritik an der Allgemeinheit der Forderungen des Bildungsvolksbegehrens, die gelegentlich in dem Vorwurf gipfelt, es sei eine „esoterische“ Angelegenheit, in Zustimmung. Wir sind einfach noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem es darum geht, dem eigentlichen Zweck der Sache eine organisatorische Gestalt zu geben, die am besten geeignet ist, diesen Zweck zu erfüllen. Das ist für Menschen, die für diese organisatorische Gestalt verantwortlich sind, nicht immer leicht anzuerkennen. Aber man könnte inzwischen wissen, dass jeder Versuch, eine Marschrichtung zu erzwingen, bevor man sich auf das Ziel geeinigt hat, nur ein Ergebnis hervorbringen kann: Man geht im Kreis.
Das Bildungsvolksbegehren beinhaltet nur eine konkrete Forderung: zurück an den Start. Diese Forderung verdient Unterstützung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2011)