Keine falsche Scham

Die Debatte über Beschneidung sollte nicht als »unwichtig« abgetan werden. Zu einer ehrlichen Diskussion gehört aber auch, dass Kritiker über ihre Motive nachdenken.

Wann braucht es eine öffentliche Debatte über rituelle Beschneidung? Wann, wenn nicht jetzt? Wenn Spitäler aus Angst vor dem Rechtsrisiko einen OP-Stopp verhängen. Wenn Vertreter von vier Religionen wegen allgemeiner Verunsicherung eine offizielle Erklärung der Regierung fordern.

Allein: Die heimischen Spitzenpolitiker sehen keinen Diskussionsbedarf. Das sei „nicht wichtig“, sagt der Gesundheitsminister. Da gebe es nichts klarzustellen, heißt es aus dem Justizministerium (dort sollte man sich fragen, warum seine Versicherung, der Eingriff sei straflos, den Betroffenen nicht genügt). Dass das Terrain heikel ist, zeigt nicht zuletzt, dass sich weder Bundespräsident noch Integrationsstaatssekretär näher äußert. Die sagen sonst zu fast allem etwas.

Die politische Scham findet ihren Widerhall in einer legistisch geschickten Lösung: Die Straflosigkeit der religiös motivierten Beschneidung von Kindern ergibt sich nur implizit, eine ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis (in der man etwa Qualitätskriterien festlegen könnte) fehlt. Denn so einer Regelung würden Fragen vorangehen, die offenbar keiner stellen will: Wann ist Religionsfreiheit mehr wert als körperliche Unversehrtheit? Oder: Wie verhält sich das Recht der Eltern, Kinder so zu prägen, wie sie es für richtig halten, gegenüber einem modernen kindlichen Selbstbestimmungsrecht? Man muss wahrlich kein Antisemit oder Islamfeind sein, um darüber nachzudenken.

Deshalb Ja zur Debatte, aber auch Ja zur Kritik an ihrem bisherigen Verlauf: Denn warum die Frage der Kinderrechte auf Religion reduziert wird, darf man hinterfragen. Immerhin fällen Eltern täglich Entscheidungen, die für Kinder auch körperliche Langzeitfolgen haben, gute wie schlechte. Skurrile Ernährungsvorschriften, Passivrauchen, extremer Sport: Die Liste der Dinge, die Eltern Kindern zumuten, ist lang.

Dennoch ist uns die ambivalente elterliche Freiheit lieber als ihr Gegenteil – die Omnipräsenz des Staates im Kinderzimmer. Die Grenze der Freiheit ist jedoch die Gefahr für das Kind. Besteht diese bei der Beschneidung? Zwar handelt es sich um eine OP (mit Risiko), die aber keinen gesundheitlichen Schaden verursacht. Zumindest lautet so bisher die landläufige Prämisse. Sollte sie mit Studien widerlegt werden, wäre ein Verbot jedoch tatsächlich Gebot.

Geht man aber hier und nun davon aus, dass dem Kind bei sachgemäßer Durchführung kein Schaden zugefügt wird, stehen sich nicht Kinder- und Elternrechte gegenüber, sondern Menschen, für die religiöse Regeln zentral zur Identität gehören, und eine, wie das so hübsch heißt, „religiös unmusikalische“ Gesellschaft.

Für diese ergeben solche Regeln einfach keinen Sinn. Anders als etwa die Weltsicht von Impfgegnern, die man, auch wenn man sie nicht teilt, rational nachvollziehen kann. Bekämen Juden und Muslime mehr Verständnis, würden sie Hygiene oder gar bessere Sexualität als Grund für die Beschneidung angeben? Kann sein. Aber soll das tatsächlich ihr Problem sein? Hoffentlich nicht.



ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2012)

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