Wie viel Haft ist einer liberalen Gesellschaft zumutbar?

Mit der Abschaffung der lebenslangen Haft würde nur die Realität nachvollzogen und diese dennoch bestehen bleiben. Über eine virtuelle Debatte von großer Symbolik.

Anders Behring Breivik hat 77 Menschen ermordet. Eine lebenslange Haftstrafe hat ihm zu keinem Zeitpunkt gedroht. Diese ist im norwegischen Strafrecht nicht vorgesehen. Selbst für Menschen, die in der traditionell liberalen skandinavischen Gesellschaft aufgewachsen sind, war das schwer zu ertragen. Erst recht für die Angehörigen der Opfer.

Es gibt nicht nur in einem Extremfall wie diesem das nachvollziehbare Bedürfnis nach Rache und Vergeltung. Zudem kommt, auch bei den für die Verurteilung mitverantwortlichen Ermittlungsbehörden, Richtern, Staatsanwälten, anderen potenziellen Opfern und der Gesellschaft insgesamt, noch das Unbehagen und die Furcht hinzu: Was ist, wenn der Täter dann eines Tages wieder auf freiem Fuß ist? Wird er rückfällig? Schlägt er erneut zu? Will er sich rächen?

Eine lebenslange Haftstrafe würde dem – im wahrsten Sinne des Wortes – einen Riegel vorschieben.

SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim will die lebenslange Haftstrafe, die stärkste Sanktion einer liberalen Gesellschaft, die keine Todesstrafe kennt, nun abschaffen. Wobei das einer virtuellen Reform gleichkäme. Damit würde nur im Gesetzbuch nachvollzogen, was ohnehin Realität ist. In dieser gibt es nämlich in Österreich keine lebenslange Haft.

Selbst wer zu einer solchen verurteilt ist, kommt in den allermeisten Fällen nach spätestens 23 Jahren frei. Es sei denn, er stirbt zuvor im Gefängnis oder wurde als „geistig abnormer Rechtsbrecher“ – oder wie es nun politisch korrekt heißt: „psychisch kranker Rechtsbrecher“ – eingestuft.

Allerdings: Die Abschaffung der lebenslangen Haft hätte sehr wohl eine große symbolische Bedeutung.

Selbst in der SPÖ war und ist das nicht unumstritten – vor allem aus Sorge, dem politischen Gegner auf der Rechten eine Angriffsfläche zu bieten.

Und wie zur Bestätigung schossen BZÖ („Lebenslang muss lebenslang bleiben“) und FPÖ („Wie verzweifelt muss SPÖ-Wahlkampfleiter Darabos sein, wenn er jetzt schon Junkies, Schwerstkriminelle und Irre als Wählerreserve für die Sozialdemokratie sieht?“, © Harald Vilimsky)gestern umgehend ihre entsprechenden Presseaussendungen ab.

Hannes Jarolim ist mit einem entsprechenden Vorstoß schon einmal abgeblitzt. Nun soll die Abschaffung der lebenslangen Haftstrafe jedoch Eingang in das SPÖ-Justizprogramm finden. Sofern er nicht doch noch aus taktischen Gründen von besagtem Wahlkampfleiter zurückgepfiffen wird.

Traditionell zeigt sich in der Justizpolitik – im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik – ja die liberale Seite der Sozialdemokratie. Dass Sozialismus und persönliche Freiheit nicht miteinander vereinbar seien, wie vom großen liberalen Denker Friedrich August von Hayek postuliert, stimmt für diesen Bereich nicht (wobei er eher den kommunistischen Sozialismus und weniger den sozialdemokratischen vor Augen hatte).

Die Abschaffung der Haftstrafe für Homosexuelle, die Beendigung der gesetzlichen Abhängigkeit der Frau von ihrem Mann waren wesentliche Teile der Justizreform unter Bruno Kreisky. Dass diese von einem ehemaligen Kommunisten, Christian Broda, als Justizminister verantwortet wurden, ist wieder eine andere Geschichte.

Dass man es aber auch übertreiben kann, zeigt ein anderer Punkt aus dem geplanten SPÖ-Justizprogramm: Strafrechtlich verfolgt werden soll künftig nur noch „Suchtgifthandel in größerem Ausmaß“. Was immer das dann konkret bedeuten mag, problematisch ist es auf jeden Fall, wenn „Suchgifthandel in kleinerem Ausmaß“ straffrei bleibt. Der Staat sollte in Sachen Drogenprävention und -bekämpfung nicht kampflos das Feld räumen. Hier wäre ein Zurückpfeifen Jarolims eher angebracht.

Anders Behring Breivik wurde im August 2012 zu 21 Jahren Haft verurteilt. Mit anschließender Sicherheitsverwahrung. Dies sieht übrigens auch der SPÖ-Entwurf vor: Bei entsprechender Gefährlichkeit des Täters kann ein bis zu lebenslanger Maßnahmenvollzug verhängt werden.

Lebenslang kann also doch auch weiterhin lebenslang bedeuten – auch wenn es dann nicht mehr so heißt.

E-Mails an: oliver.pink@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2013)

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