Es geht um mehr als Bäume

Der Bürgerprotest gegen ein Shoppingcenter auf dem Istanbuler Taksim-Platz hat sich ausgeweitet: Das Darüberrollen der Polizei symbolisiert für viele den autoritären Stil von Premier Erdoğan.

Recep Tayyip Erdoğan ist ein moderner Mann. In gewisser Hinsicht. Gestern, Samstag, twitterte der türkische Premier (oder einer seiner Sprecher) mitunter im Minutentakt: „Wenn die Opposition 100.000 Menschen versammelt, können wir eine Million versammeln." Oder: „Während unserer Regierungszeit haben wir zwei Milliarden Bäume gepflanzt und 120 Parks geschaffen, wir wollten die Türkei grüner machen." Oder auch: „Über den Einsatz von Tränengas werden Unwahrheiten behauptet."

Währenddessen machten - unter anderem auf Twitter - Bilder die Runde, die zeigten, wie brutal die Polizei gegen die Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz vorging. Auf den Videos und Fotos ebenfalls gut sichtbar: dichte Tränengaswolken. Jetzt ist es nicht so, dass Demonstrationen in anderen europäischen Großstädten stets gewaltfrei ablaufen - siehe, ebenfalls am Samstag, in Frankfurt. Doch das Ausmaß der Istanbuler Polizeigewalt in Relation zum ursprünglichen Anlass - Menschen protestieren gegen das Fällen von Bäumen, die einem Shoppingcenter weichen sollen - verstört. Und es führt dazu, dass man sich eine Grundsatzfrage stellt: Entspricht das Bild, das die türkische Regierung von ihrer Bevölkerung hat, noch der Realität? Oder klafft eine Lücke zwischen dem, was Politik und Bevölkerung unter einer modernen Gesellschaft verstehen?

Einer Gesellschaft, die - Treppenwitz - auch Erdoğans Regierung und ihrem wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken ist. Der Protest ist zwar nicht nur, aber auch ein Phänomen des Wohlstands, dessen Aushängeschild Istanbul ist. Das Geld hat die Mittelschicht gestärkt und die benimmt sich so, wie sich eine zunehmend selbstbewusstere Bürgerschaft benimmt: Sie mischt sich ein - etwa, wenn in ihrer Stadt Bauprojekte anstehen oder wenn, wie zuletzt, die Ausgabe von Alkohol gesetzlich beschränkt werden soll. Auf dem Taksim-Platz sah man keinen ideologischen Stoßtrupp, sondern Arbeiter, Angestellte, Junge, Alte. Durchschnittliche Bürger eben, die die Empörung über die Polizei erst recht auf die Straßen treibt.

Taksim ist nicht Tahrir. Dass Erdoğan diesen „Nebeneffekt" des Aufschwungs nicht auf dem Radar hat, zeigte schon seine erste Reaktion: Egal, was passiere, das Shoppingcenter werde gebaut. Punkt. Der „Was kümmert's mich"-Ton ist nicht neu. Er passt zu den rüden Ansagen auf dem diplomatischen Parkett. Doch kann man so mit den eigenen Leuten reden? Der Premier selbst hat den Türken immer wieder Selbstbewusstsein gepredigt, so sehr, dass mediale Beobachter von „neo-osmanischen" Anwandlungen sprechen. Wundert er sich jetzt, dass die Menschen ernst genommen werden wollen?

Das Vorgehen auf dem Taksim-Platz nährt jedenfalls ein länger existierendes Unbehagen mit dem autoritären, selbstherrlichen, oft erratischen Stil des Premiers. Und es erinnert auch daran, dass in der Türkei viele Journalisten und Regimekritiker im Gefängnis sitzen. Bei Rankings in puncto Medienfreiheit liegt die Türkei auf Rang 148. Von 179 Ländern. Für Erdoğan, der 2014 Präsident werden will, ist die Causa unangenehm, auch weil sie den Unterschied zwischen ihm und Präsident Abdullah Gül betont: Während Gül von der Polizei Angemessenheit verlangte, forderte Erdoğan patzig „den Protest zu beenden".

Doch auch wenn sich der Protest auf andere Städte ausgeweitet hat, internationales Echo findet (auch in Wien) und längst zur Grundsatzkritik am Premier gewandelt hat: Dass all das für Erdoğan langfristig zum Problem wird, ist nicht gesagt. Er ist wegen des türkischen Wirtschaftswunders beliebt und hat mit der türkisch-kurdischen Annäherung Pluspunkte gesammelt. Zudem ist die schwache Opposition, die sich an die Proteste anhängt, als Kämpferin für die Meinungsfreiheit wenig glaubhaft. Kurz, auch wenn der Vergleich griffig klingt: Der Taksim-Platz ist nicht der Tahrir-Platz, die Türkei nicht Ägypten. Aber eines ist klar: In Istanbul geht es eindeutig um mehr als Bäume.


ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2013)

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