Es ist zynisch, den Binnenmarkt für den eigenen Exporterfolg zu nutzen, die ausgleichende Wirkung des gemeinsamen Arbeitsmarkts aber zu negieren.
Der Markt hat seine eigene Dynamik. Diese ist manchmal brutal, manchmal einfach nur logisch, unter dem Strich aber positiv. Voraussetzung für seinen Erfolg ist, dass es eine höhere Instanz gibt, die auf fairen Wettbewerb achtet, die gegen Protektionismus und Absprachen vorgeht. In der sozialen Marktwirtschaft ist zudem ein Schutznetz für jene vorzusehen, die den Mechanismen dieses Markts zum Opfer fallen.
Nach diesem Muster ist der EU-Binnenmarkt aufgebaut – der wirtschaftliche Motor Europas. Seine vier Kernelemente (freier Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr) sorgten lange für einen verlässlichen Antrieb und für Wachstum. Jetzt, da das Wachstum abnimmt, die wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Finanz- und Schuldenkrise zunehmen, werden Elemente dieses Markts infrage gestellt. Von Großbritannien über die Niederlande bis zur daran teilnehmenden Schweiz ist es vor allem die Personenfreizügigkeit. Das klingt bei erster Betrachtung logisch: Die Krise spült immer mehr Menschen auf jene nationalen Arbeitsmärkte, in denen es noch Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Die Konkurrenz wird größer, das Risiko für inländische Arbeitskräfte ebenso.
In Wahrheit ist das ein ganz normaler Mechanismus des Markts. Er gleicht seine inneren Spannungen automatisch aus. Wie sich am Beispiel der polnischen Arbeitsmigranten in Großbritannien zeigt, reagiert der Markt wie ein kommunizierendes Gefäß. Ändert sich die Lage im Heimatland, wandern diese Menschen wieder zurück. Ohne offenen europäischen Arbeitsmarkt wäre die Arbeitslosigkeit in einigen Ländern noch weit höher, der Fachkräftemangel in anderen Ländern auch.
Es ist zynisch, den Binnenmarkt für den eigenen Exporterfolg zu nutzen, die ausgleichende Wirkung des gemeinsamen Arbeitsmarkts aber zu negieren. Jeder Wirtschaftsprofessor wird erklären können, warum ein größerer Markt Vorteile bringt. Er erhöht für Unternehmen wie für Einzelpersonen die Chancen, sich mit einer Kompetenz, mit einer Dienstleistung oder einem Produkt zu etablieren. In einem kleinen Markt gibt es hingegen geringere Entfaltungs- und Absatzmöglichkeiten. Der EU-Binnenmarkt erlaubt Nischen für spezielle Leistungen. Ein österreichischer Nanotechniker, Schauspieler oder Koch kann froh sein, wenn ihm dieser Markt Jobchancen außerhalb seines Heimatlands bietet. Das macht ihn von seinem Arbeitgeber in der Heimat unabhängiger – bietet ihm mehr berufliche und private Möglichkeiten. Hingegen wäre es für die nationale Wirtschaft problematisch, hätte sie keine Alternative bei der Suche nach Fachkräften, die auf dem nationalen Arbeitsmarkt nicht zu finden sind.
Wenn die Schweiz per Referendum beschlossen hat, dass Inländer bei der Arbeitsvermittlung bevorzugt behandelt werden müssen, klingt das für viele verständlich, für manche vielleicht sogar sympathisch. Um in der Logik des Markts zu bleiben: Es ist, als ob den Österreichern vorgeschrieben würde, sie sollten künftig nur noch Äpfel aus heimischer Produktion kaufen. Doch verbieten die EU-Binnenmarktregeln weder dem Schweizer Arbeitgeber, jene Menschen anzustellen, die ihm näher sind, die er kennt. Noch verbieten sie Österreichern, heimischen Produkten den Vorzug zu geben. In einem Markt hat jeder die Option, seine Entscheidung auf Grundlage von Preis, Qualität oder anderen Werten zu treffen. Solche Sonderregelungen allerdings festzuschreiben bedeutet die Schaffung von nationalem Protektionismus. Ein Protektionismus, der letztlich den Wettbewerb außer Kraft setzt und zu höheren Preisen führt.
Es ist eigenartig, dass Länder wie die Schweiz oder Großbritannien, die bisher stark marktwirtschaftlich ausgerichtet waren, ein Kernelement des Binnenmarkts infrage stellen. Vordergründig geht es dabei um Arbeitsplätze für Inländer. Was aber wird geschehen, wenn diese Einschränkungen nicht ausreichen, um Zufriedenheit und Sicherheitsgefühl der eigenen Bevölkerung zu stärken? Werden dann nach ausländischen Menschen auch ausländische Waren diskriminiert?
Im Grunde geht es ja um das Gleiche, nur dass sich Waren nicht so gut als Feindbilder eignen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2014)