Die amputierte Ukraine: Ein durchaus reales Horrorszenario

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Moskau entzieht Kiew sprichwörtlich den Boden unter den Füßen. Der Westen muss verhindern, dass Russlands Vorgehen in Genf abgesegnet wird.

Das Krim-Schauspiel vollzieht sich zum zweiten Mal, diesmal in der Ostukraine. Mit einem wichtigen Unterschied: Diesmal könnte dieses von russischer Hand geschriebene Stück nicht mit dem einhelligen Applaus des Publikums enden, sondern mit Buhrufen und Blut.

Moskau hat zunächst ein wenig anders Regie geführt: verhaltenere Zurufe aus dem Regieraum, mehr lokale Statisten. Fast sah es so aus, als würde man die prorussischen Aktivisten sich selbst überlassen – die Hilferufe der „Donezker Republik“ blieben zunächst unbeantwortet. Die lokalen Separatisten bekamen kaum professionelle Unterstützung. Doch seit Samstag hat sich die Lage dramatisch verändert. Zur Aufführung kommt nun das Drama vom traurigen Zerfall der Ukraine, Teil zwei. Die „grünen Männchen“, die schon auf der Krim den Anschluss an Russland auf den Weg gebracht hatten, tauchten wieder auf. In etwas verändertem Aussehen, doch an ihrer Professionalität, Organisiertheit und Ausstattung aus einer Hand besteht kein Zweifel.

Ja, es gibt Menschen, die den Bewaffneten zujubeln. Doch man darf nicht vergessen: Russland nutzt schamlos die Unzufriedenheit und Ängste in der Bevölkerung für die eigenen Zwecke. Eine Abspaltung der Ostukraine galt bis vor wenigen Wochen als undenkbar. Welche Forderung am Donnerstag bei den in Genf geplanten Gesprächen kommt, ist klar: Unter Berufung auf den „Aufstand“ der Lokalbevölkerung wird man die sogenannte Föderalisierung der Ukraine fordern – ein Euphemismus für die Kontrolle des Ostens und Südens.

Die Optionen der Kiewer Regierung sind beschränkt. Sie ist in einer Zwickmühle: Wenn sie die Bewaffneten weiter gewähren lässt, dann riskiert sie abermals, dass einfach Fakten geschaffen werden. Russland nutzt schamlos die Unzufriedenheit und Ängste in der Bevölkerung.

Wenn sie nun gegen die Bewaffneten einschreitet, so wie Übergangspräsident Alexander Turtschinow das angekündigt hat, dann riskiert sie ein Blutvergießen und im schlimmsten Fall einen offenen Krieg. Die hinter der Grenze stationierten russischen Soldaten könnten im Handumdrehen ukrainische Städte besetzen. Wo würden sie haltmachen? Im Osten? Oder erst am Dnjepr? Wladimir Putin macht derzeit das Undenkbare denkbar. Und das Unmögliche möglich.

Kampflos wird die Ukraine den Osten allerdings nicht aufgeben, und das sollte man auch nicht von ihr erwarten. Auch die Bevölkerung wird sich nicht einfach unterwerfen. Die Gefahr eines Bürger- und Bruderkriegs ist erschreckend real.

Russland will die Regierung in Kiew in die Knie zwingen. Da man das auf diplomatischem Weg oder durch ökonomische Drohungen bisher nicht geschafft hat, zieht man ihr einfach den Boden unter den Füßen weg. Wenn es im Osten brennt, können dort keine Wahlen stattfinden, und Russland wird weiter von einem Putschregime sprechen.

Präsident Turtschinow hat vor den Gesprächen am Donnerstag den Druck erhöht und gleichzeitig einen Ausweg aufgezeigt: die Abhaltung eines Referendums zum Zeitpunkt der Präsidentenwahlen. Ein Machttransfer vom Zentrum weg scheint unausweichlich. Aber die Gefahr ist groß, dass aus dem ukrainischen Angebot ein russischer Masterplan für den allmählichen Zerfall wird.


Das zu verhindern ist die Aufgabe des Westens. Bei den Verhandlungen in Genf dürfen sich EU und USA nicht über den Tisch ziehen lassen – gewiss, eine schwierige Aufgabe, wenn einer der Gesprächspartner die Pistole auf den anderen Verhandlungsteilnehmer gerichtet hat. Der Westen hat Russland schon viel zu lange seine gefährlichen Kriegsspiele durchgehen lassen. Er muss auf dem russischen Truppenabzug beharren. Die EU sollte neue Strafmaßnahmen vorbereiten. Auch in internationalen Organisationen wie OSZE und Europarat gibt es noch Handlungsspielraum für Ächtung. Und womöglich ist es auch an der Zeit, dass die Nato über logistische Hilfe – technische Unterstützung, Counter-Intelligence – für ihren bedrängten Partner nachdenkt.

Sonst wird man sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass man dabei zugesehen hat, wie der russische Präsident im heutigen Europa ein anderes Land zerschlagen hat.

E-Mails an:jutta.sommerbauer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2014)

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