Großkoalitionäre Fadesse in Brüssel

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Nur keine Visionen! Die Europawahl war vielleicht die wichtigste Richtungswahl der letzten Jahre, doch sie wurde zu einer harmlosen Abrechnung.

Die Europawahl war die erste Wahl, an der mein Vater aus Altersschwäche nicht mehr teilnehmen konnte. Fast 70 Jahre lang hat er gewählt, erstmals im Oktober 1945. Damals war es ein Siegeszug der beiden traditionellen Lager ÖVP und SPÖ mit gemeinsam 95 Prozent der Stimmen. Das gemeinsame Ziel des Wiederaufbaus war in diesem Nachkriegsösterreich so dominant, dass die Schuldfrage für Bürger- und Weltkriege in den Schatten gestellt wurde. Niemand wollte im Oktober 1945 abrechnen, aufrechnen oder erneut Feindbilder bedienen. Heute wissen wir, es war der Harmoniesucht fast schon zu viel. Mit ihr wurde auch die Frage der Verantwortung beiseitegestellt, als hätte es sie nicht gegeben.

Vom Wunsch nach einem starken, stabilen Regierungslager wie damals sind wir heute in Österreich und nach diesem Wochenende auch in ganz Europa weit entfernt. Die etablierten Parteien wurden bei dieser Europawahl für die Finanz- und Schuldenkrise und deren Auswirkungen in unterschiedlichem Ausmaß abgestraft. Es war kein „politischer Erdrutsch“, wie ihn manche angekündigt haben, und wie er eigentlich auch als Sprachbild nicht funktioniert. Aber es war die erste große Nachkrisenwahl, bei der ein Stück der Verletzungen sichtbar wurde: Die Bevölkerung hat Vertrauen in die politische Führung verloren. Allen voran in Frankreich, aber auch in Großbritannien, Spanien oder Griechenland brach die Zustimmung für die Regierungsparteien ein.

Obwohl sich die Europäische Volkspartei behaupten konnte, ist ein eindeutiges ideologisches Muster nicht auszumachen. Die Erfolge von rechts- und linkspopulistischen Parteien sind eher Symbol für eine planlose Frustration als für eine neue Vision. Diese Vision hatten freilich auch die etablierten Parteien nicht anzubieten. Selbst die Spitzenkandidaten der großen politischen Familien, Jean-Claude Juncker für die EVP und Martin Schulz für die Sozialdemokraten, blieben die Aussicht auf eine Nachkrisenordnung schuldig. Sie bemühten sich zu vernebeln, dass es bei dieser Europawahl eigentlich um eine Richtungswahl ging. Die Chance wurde verpasst, die Weggabelung darzustellen, an der die EU heute steht.

Was ist die Antwort auf diese Krise? Ist es der Weg zu einer harten Sanierungspolitik, die weitere Opfer auf dem Arbeitsmarkt fordern dürfte? Ein Weg, der das bisherige Finanzsystem schützt, um gemeinsam mit gesunden Staatsfinanzen eine Grundlage für die spätere Rückkehr zum Wachstum zu schaffen? Oder ist es der Weg, der die Reparaturen auf dem Arbeitsmarkt in den Vordergrund stellt, der die Vermögenden – gleich, ob sie nur profitiert haben oder bisher unternehmerischer Motor der Beschäftigung waren – zur Kassa bittet? Und ein Weg, der dem europäischen Finanzsystem die gefährliche Eigendynamik verbietet?

Es hätte auch um die Frage gehen müssen, welche Rolle die EU in dieser Wiederaufbauphase übernehmen soll. Wird sie das Werkzeug der Wirtschaftsliberalen, die sich gegen allzu viele Regulierungen stellen, oder wird sie das politische Instrument zu mehr politischen Eingriffen für Verteilungsgerechtigkeit?

Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, die für diese beiden Richtungen stehen könnten, blieben ihre Vision für Europa ebenso schuldig. Da jeder von ihnen die Kernfrage eines neuen EU-Vertrags umschifft hatte, blieben sie eine klare Orientierung schuldig. Sie präsentierten sich als Verwalter einer EU, die sie lediglich etwas sympathischer darstellen wollen. Die Nachkrisenwahl, die Aufbruchstimmung hätte erzeugen können, wurde deshalb zu einer harmlosen Abrechnung. Die schlimmste Konsequenz daraus ist, dass in der Europäischen Union alles so bleibt, wie es ist – unausgegoren, unausgewogen und intransparent. In Brüssel wird eine geschwächte Große Koalition regieren.
Schuld daran haben freilich auch Wähler, die sich mehrheitlich entweder nicht an dieser EU-Wahl beteiligt oder die sie zur undifferenzierten Abrechnung umfunktioniert haben. Vielleicht wollen viele von ihnen alles so erhalten, wie es bisher war. Weil es gemütlich ist, aus einer Position heraus zu kritisieren, aus der die Risken einer Veränderung nicht spürbar werden.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

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