Europas wackelige Sicherheitsarchitektur

Russland schlägt einen neuen Sicherheitspakt für Europa vor. Die Sache ist es wert, diskutiert zu werden.

Dmitrij Medwedjew hat recht: Die bestehende europäische Sicherheitsarchitektur, entstanden Anfang der 1990er-Jahre, ist veraltet, teilweise baufällig und bedürfte dringend einer Überholung. Dem russischen Präsidenten wäre dabei ein Abriss des jetzigen Gerüsts natürlich am liebsten – und dann ein Neuaufbau nach Moskaus Plänen. Er hat einen entsprechenden Vorschlag erstmals bereits im Juni bei einem Besuch in Berlin gemacht. Das internationale Echo war äußerst dürftig. Erst nachdem der georgisch-russische Fünf-Tage-Krieg im August die Schwächen des bestehenden europäischen Sicherheitssystems offengelegt hat, wird die Diskussion über Medwedjews Vorstoß intensiver.

Zu diskutieren gäbe es mehr als genug, zum Beispiel: Sind die bestehenden Sicherheitseinrichtungen auf dem Kontinent – Nato, Nato-Russland-Rat, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – in ihrer jetzigen Form in der Lage, den sicherheitspolitischen Herausforderungen der Gegenwart effektiv zu begegnen? Nein, wie der Kaukasus-Krieg dieses Sommers zeigte.

Was der russisch-georgische Konflikt auch zeigte: Die sogenannten „eingefrorenen Konflikte“ in Europa sind gar nicht so tiefgekühlt, sondern können von einem Tag auf den anderen auftauen und zu einer Gewalteruption führen. Der Konflikt um die von Georgien abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien ist nur eines dieser Probleme, der armenisch-aserbaidschanische Streit um Berg-Karabach, der Streit um die von Moldova abtrünnige Region Transnistrien sind weitere; auch die Krim, Heimat einer starken russischsprachigen Bevölkerungsgruppe, ist ein potenziell gefährlicher Unruheherd.

Überhaupt sind in der postsowjetischen Welt die Grenzziehungen zwischen den dortigen Staaten keinesfalls alle klar geregelt. Und auch Südosteuropa ist alles andere als stabilisiert, das Kosovo-Problem seit der Unabhängigkeitserklärung keinesfalls vom Tisch. All diese offenen Fragen gehörten eindringlich diskutiert. Und selbstverständlich müssten auch die Fragen, die Moskau besonders unter den Nägeln brennen, in einem solchen Forum angesprochen werden: Muss sich die Nato wirklich immer weiter nach Osten ausdehnen und damit Russland gleichsam in die Zange nehmen? Ist die Nato tatsächlich ein Instrument zur Verbreitung von Stabilität – oder durch ihren Erweiterungsdrang eher eines der Instabilität? Ist ein US-Raketenabwehrsystem vor der Haustüre Russlands tatsächlich ein Schutzschirm nur gegen Raketenangriffe aus Schurkenstaaten?

Aber genauso müssten in einem neuen europäischen Sicherheitsforum die Ängste, die Russland durch seine ruppige Außenpolitik in der Nachbarschaft verbreitet, offen angesprochen werden: Geht es Moskau mit seiner „Jetzt-komme-ich-Außenpolitik“ und dem umfangreichen Ausbau seiner militärischen Kapazitäten wirklich nur um die Wahrung eigener Sicherheitsinteressen, oder verfolgt es im Hinterkopf ein neoimperiales Projekt, die Wiedererrichtung von Einflusssphären in seiner Nachbarschaft, wie gerade Esten, Letten, Litauer, Polen oder Westukrainer argwöhnen? Klar ist also: Der Diskussionsbedarf ist riesig. Die Frage ist, in welchem Rahmen die Diskussion geführt werden könnte.


Amerikas scheidende Regierung und einige europäische Staaten haben Medwedjews Vorschlag zuerst zurückgewiesen, da sie vermuten, dass es Moskau letztlich nur darum geht, die Nato als tragende Säule der derzeitigen europäischen Sicherheitsstruktur auszubooten. Daran sind zwar auch Deutschland, Frankreich und ein paar weitere europäische Staaten nicht interessiert, die aber durchaus im jetzigen Sicherheitssystem Defizite erkennen und deshalb einer Diskussion mit Russland gegenüber aufgeschlossen sind. Dies nicht zuletzt auch darum, weil sie den – von Moskau blockierten – Prozess der konventionellen Rüstungskontrolle und Abrüstung wieder flottbekommen wollen.

Moskau hat bisher nur wenige Details über seine konkreten Vorstellungen einer neuen Sicherheitsstruktur präsentiert, sondern nur fünf Prinzipien, auf denen ein völkerrechtlich verbindender Sicherheitsvertrag beruhen sollte. Aber vielleicht wartet der Kreml auch nur, bis der neue US-Präsident sein Amt im Jänner angetreten hat und welche Ideen denn Barack Obama für eine europäische Sicherheitsordnung hat.

Möglicherweise kommt dann der OSZE-Sondergipfel, den Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy vorgeschlagen hat, und den die österreichische Diplomatie gern in Wien austragen würde, ja doch zustande.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.12.2008)

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