Warum man über das Schweigen reden soll

Wann darf ein Arzt über seine Patienten reden – und wann nicht? Die Frage über den Preis der Sicherheit sollte man nicht auf den Schultern Einzelner abladen.

Seit der ersten „Warum?“-Schlagzeile nach dem Germanwings-Absturz wird nicht nur nach Antworten, sondern auch nach Lösungen gesucht. Zu reagieren und künftig Fehler zu vermeiden ist schließlich das einzig Sinnvolle, das uns zu sinnlosen Tragödien einfällt.

Im Anlassfall stößt dieser Wunsch jedoch an eine Grenze: an die ärztliche Schweigepflicht. Der Copilot und Täter, das weiß man inzwischen, litt an einer psychischen Erkrankung und Suizidgefährdung. Es gab zwar einen Vermerk in seinem Tauglichkeitszeugnis, aber der Arbeitgeber wusste offenbar nicht, dass die Krankheit wieder akut war. Was die Ärzte des Mannes genau geahnt haben, ist unklar, aber immerhin hat ihn einer für den Tag der Tat krankgeschrieben – was der Copilot aber verheimlicht hat. Diese Vorgeschichte führt neben Debatten über psychologische Tests für Piloten zu der heiklen Frage, ob es für Berufe, bei denen jemand große Verantwortung für das Leben anderer trägt, Ausnahmen von der Schweigepflicht geben soll. Die Antwort war mehrheitlich ein lautes Nein. Würde die Schweigepflicht durchlöchert, so das Argument, würden sich Patienten den Ärzten gar nicht mehr anvertrauen. Das wäre erst recht gefährlich.


Stigmatisierung nicht erwünscht. Das ist richtig und wichtig. Schließlich hat die quälend langsame und längst nicht abgeschlossene Enttabuisierung psychischer Krankheiten mehr für die Sicherheit des Einzelnen und aller getan, als es irgendein psychologischer Test je könnte. Neue Stigmatisierung ist das Letzte, was man sich wünschen kann.

Allerdings ist es auch wahr, dass die Schweigepflicht ohnehin löchrig ist. Und darüber sollte man reden. Bereits 2002 traf der Oberste Gerichtshof dazu eine exemplarische Entscheidung: Ein nebenberuflicher Rettungsfahrer wurde bei einem Abend mit Freunden ohnmächtig und landete im Spital. Dort vermutete man ein Alkoholproblem und drängte auf eine Abklärung der Ohnmacht. Der Patient weigerte sich, die Ärzte informierten die Führerscheinbehörde. Der Mann klagte, aber der OGH gab letztlich dem Spital recht. Da der Mann als Rettungsfahrer eine besondere Verantwortung hatte, sich zudem nicht kooperativ verhielt und es schon in der Vergangenheit Probleme mit Alkohol gab, sei das Risiko eines Schadens für Dritte größer als das Interesse auf Geheimhaltung.

Das Urteil zeigt, wie die Medizinjuristin Maria Kletecka-Pulker meint, dass das rechtliche Regelwerk genügt. Zumindest in der Theorie ist das so. In der Praxis stehen Ärzte aber oft allein vor einer schwierigen Entscheidung, die bei Fehleinschätzung ernste rechtliche Konsequenzen hat. Was macht zum Beispiel ein Arzt, dessen Patient wegen beginnender Demenz an Orientierungslosigkeit leidet, aber noch immer Auto fährt? Der Psychiater, dem das passierte, erhielt bei einem Anruf bei der Ärztekammer folgende dürre Auskunft: Man weiß es auch nicht. Letztlich löste er das Problem, indem er die Sache mit Erlaubnis des Patienten mit den Angehörigen besprach – mit dem Resultat, dass Opas Auto verkauft wurde. Aber was, wenn der Patient dem Arzt diese Offenheit nicht erlaubt hätte?


Blackbox Psyche. Je nachdem, welche Rolle man einnimmt – die des Patienten, der sich seine Mobilität nicht nehmen lassen will, oder desjenigen, der ihm im Autoverkehr begegnet –, wird man verschiedene Meinungen dazu haben. Ärzten geht es da wohl nicht anders. Es gibt nicht für alles Laborwerte, ganz klare Prognosen, oft bleibt unsere Psyche eine Blackbox. Umso wichtiger wäre, dass man diese Fragen offen diskutieren kann. In der Schweiz dürfen Ärzte, wenn sie unsicher sind, Rücksprache mit einer Aufsichtsbehörde halten, die ihnen die Entscheidung abnimmt. Darüber könnte man zumindest nachdenken. Denn die Frage, welchen Preis eine Gesellschaft für ein bisschen mehr Sicherheit zu zahlen bereit ist und welchen eben nicht, ist keine, die man bequem auf den Schultern Einzelner abladen darf.

ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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