Auch mit der Hand vor den Augen verschwindet das Mittelmeer nicht

Shoe used by a migrant is pictured on a flotsam at the Sicilian harbor of Pozzallo
Shoe used by a migrant is pictured on a flotsam at the Sicilian harbor of Pozzallo(c) REUTERS
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Warum kann die EU Landwirtschaftssubventionen regeln, nicht aber Außengrenzen und die Verteilung von Flüchtlingen? Weil keiner die Wahrheit sagt?

So es eine christliche Identität der Europäischen Union gibt – und daran gibt es wenig zu zweifeln –, müsste sie in diesen Wochen und Monaten stärker spürbar sein: Tausende Flüchtlinge versuchen, unter absurden, lebensgefährdenden Bedingungen nach Europa zu kommen. Hunderte verunglücken dabei, Dutzende werden von ihren Schleppern vorsätzlich ermordet. Unter diesen Menschen sind zahlreiche christliche Flüchtlinge aus Syrien, auch aus Afrika. Europa überlässt das Problem mehr oder weniger zur Gänze den südeuropäischen Ländern: Italien, Spanien und Griechenland stehen allein da.

Während Euroschwäche, Hilfszahlungen an Griechenland und die Ukraine-Krise – zu Recht – Krisensitzungen rund um die Uhr zur Folge haben, bleibt das Thema Flüchtlinge in erster Linie den Innenministern überlassen, die ihrerseits versuchen, die Belastung für das jeweils eigene Land nicht allzu groß werden zu lassen. Und das fällt desto leichter, je nordwestlicher man auf der Landkarte zu Hause ist. Von einer Militäroperation zur Rettung der akut gefährdeten Menschen sieht man zu wenig. Von der notwendigen politischen Krisenfeuerwehr, wie sie Angela Merkel sonst stets – zu Recht – einberuft, hört man ebenso wenig wie von einer grundsätzlichen Debatte: Wie soll sich Europa strategisch verhalten? Wie mit dem Ansturm Tausender in großteils demolierten Booten umgehen?


Die Antwort ist moralisch komplex, aber so komplex nun auch wieder nicht. Alle EU-Mitgliedsländer haben sich zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet, es gibt nichts daran zu deuten, dass politisch und/oder religiös Verfolgte aufzunehmen sind, so an eine Rückkehr in ein Land wie Syrien gerade nicht zu denken ist. Die Sichere-Drittstaaten-Regelung führt hingegen immer deutlicher zu einem Abschieben von Verantwortung und zur Relativierung der Genfer Konvention. Entweder ganz Europa beteiligt sich an der Verteilung von Flüchtlingen, oder die Regierungschefs setzen die Konvention außer Kraft. Was hoffentlich nie passieren wird. Neben den politischen Flüchtlingen wird und ist Europa aber Ziel von sozialen Flüchtlingen: Hunderttausende junge Afrikaner hoffen, dass ihre wirtschaftliche Zukunft in Europa besser ist, und nehmen daher fast jede Gefahr auf sich. Dagegen und auch gegen das teilweise falsche Bild des rosafarbenen Europa muss die Union – das sind eben auch wir – etwas unternehmen.

Wer ernsthaft glaubt, in Europa wären genug Kapazitäten, Arbeit und Sozialleistungen für ein paar Millionen Flüchtlinge da, denkt hoffentlich nur naiv und nicht schon destruktiv. Denn eines hört man in den schönen, sozial längst nicht mehr durchmischten Gute-Gewissen-Vierteln von Berlin, Paris und Wien nicht so gern: Europa wird sich vor einer unkontrollierten Zuwanderung im wahrsten Sinn des Wortes abgrenzen müssen. Europa wird auch seine Meere(sküsten) ernsthaft und sehr teuer überwachen müssen. Europa wird Tausende von Flüchtlingen wieder abschieben müssen, so dies irgendwie möglich sein wird.

Europa wird in Nordafrika gemeinsam mit lokalen staatlichen Kräften Einrichtungen aufbauen müssen, die einen Erstkontakt mit Flüchtlingen herstellen und Auskunft geben: Die Information, wer Chancen auf ein Asylverfahren hat und wer nicht viel außer Gefahr und sichere Arbeitslosigkeit zu erwarten hat, wird vielleicht etwas ändern. Auf internationale Schlepper sollte ein ähnliches Augenmerk in den Ermittlungen wie auf Terrororganisationen gerichtet werden: Der Blutzoll ähnelt einander.

Vor allem aber: Wer weniger Flüchtlinge im Mittelmeer will, muss fading states wie Libyen und Syrien stabilisieren. Dafür wären militärische Einsätze notwendig, die Europa fürchtet. Nur wenn die gesamte Region, die der Arabische Frühling großteils mehr destabilisiert denn demokratisiert hat, zur Ruhe kommt, wird der Flüchtlingsstrom wieder nachlassen. Dafür wird viel wirtschaftliche, politische und militärische Intervention vor Ort notwendig sein. Das will keiner, das hört keiner gern, das sagt keiner gern. Vor allem nicht in gemütlich „neutralen“ Mitgliedsländern.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2015)

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