Solidarität ist nur ein Wort

Selbst wenn es einen europäischen Verteilungsschlüssel gäbe, zögen die Flüchtlinge letztlich, wohin sie wollten. Die EU muss das Problem an der Wurzel packen: im Nahen Osten und in Afrika.

Europa gibt ein erbärmliches Bild in der Flüchtlingskrise ab. Das bisherige Asylsystem ist zusammengebrochen. Die Dublin-Regeln, wonach Migranten ihren Antrag im ersten EU-Land stellen sollen, das sie betreten, gilt de facto nicht mehr. Es regiert das Florianiprinzip: Man versucht, die Verantwortung auf Nachbarn abzuwälzen. Ob Italien, Griechenland, Ungarn oder auch Österreich: Alle lassen die Flüchtlinge zu Zehntausenden durchmarschieren. Dieses Verhalten ist ärgerlich und zugleich rational. Denn wenn sich die EU-Länder entlang der Außengrenze an die Regeln hielten, dann wären fast alle Flüchtlinge bei ihnen. Und das wäre kaum verkraftbar. Allein bis Ende Juli haben sich mindestens 340.000 Verzweifelte aus dem Nahen Osten und Afrika auf den oft lebensgefährlichen Weg nach Europa gemacht. Ein Fazit lässt sich mittlerweile ziehen: So chaotisch wie bisher kann es nicht weitergehen.

Die Flüchtlingskrise zählt zu den Herausforderungen, die die EU, wenn überhaupt, nur gemeinsam meistern kann. Doch wie so oft ist Solidarität nur ein Wort. Mitglieder abseits des Flüchtlingsstroms, vor allem im Osten, ziehen es vor, weiterhin unberührt davon zu sein. Sie lehnen eine Quote ab, wollen am liebsten gar keine Asylwerber. Doch diesbezüglich sollte man ohnehin nicht zu viel erwarten: Selbst wenn es einen Verteilungsschlüssel gäbe, hieße das noch nicht, dass die Flüchtlinge am vorgesehenen Ort blieben. In der EU können sich Menschen bekanntlich frei bewegen.

Mit der Quote, dem umstrittensten (weil konkretesten) Punkt, sollten die Debatten vielleicht nicht beginnen, sondern eher enden. Außenminister Kurz will seinen Kollegen nun ein paar durchaus überlegenswerte Vorschläge unterbreiten. Eine Zauberformel ist nicht darunter – aber wer hat die schon?

Es lohnt jedenfalls, ernsthaft an die Wurzel des Problems zu gehen. Eine wesentliche Ursache der Flüchtlingskrise ist der Bürgerkrieg in Syrien, der seit 2011 mehr als vier Millionen Menschen außer Landes getrieben hat. Die meisten haben in der Nachbarschaft Zuflucht gefunden, 1,8 Millionen Syrer in der Türkei, 1,2 Millionen im Libanon, 630.000 in Jordanien. Je weniger Hoffnung diese Menschen haben, in ihre Heimat zurückkehren zu können, desto eher werden sie sich nach Europa orientieren, sofern es ihre finanziellen Mittel erlauben. Eine neue kraftvolle Initiative muss also her, um den Syrien-Krieg zu beenden. Schnell wird sich dabei kein Erfolg einstellen. Doch kapitulieren sollten die Diplomaten nicht. Die EU muss anfangen, in ihrem südlichen Krisengürtel zu agieren und nicht bloß entsetzt zuzuschauen. Ihre Interessen sind, wie man sieht, unmittelbar berührt. Und die USA sind nicht mehr erpicht, überall voranzugehen.

Drecksarbeit. Wenn Kurz auf die Einrichtung von Schutzzonen in Syrien drängt, dann wäre es angemessen, die Drecksarbeit nicht Türken und Amerikanern zu überlassen, sondern auch die EU und das neutrale Österreich einzubinden, ja die gesamte internationale Gemeinschaft. Die EU-Erstaufnahmezentren für Flüchtlinge, die Kurz in den derzeit noch hypothetischen Schutzzonen aufsperren will, sollten ihre Tore besser bereits jetzt in der Türkei oder im Libanon öffnen. Das ist natürlich Verhandlungssache. Aber es entzöge den Schleppern mit einem Schlag das Geschäft, wenn Asylwerber ihre Anträge schon in der Region stellen könnten. Kämen dann noch mehr Flüchtlinge nach Europa? Nicht unbedingt, wenn die EU eine Obergrenze für Asylanträge einzieht, die Außengrenze effektiv bewacht und die Flüchtlingslager in der Region großzügiger unterstützt. Stoff genug für Sonderschichten auf Gipfeltreffen, die man ja auch in Bezug auf Griechenland im Wochentakt für nötig hielt. Auch auf internationaler Ebene. Die USA waren an der Chaos-Genese in Nahost nicht unbeteiligt. Sie könnten auch ein paar Flüchtlinge aufnehmen.

Doch letztlich wird man die EU und die europäischen Regierungen daran messen, ob sie die Krise in den Griff bekommen.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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