Viktor Orbán und das Ende der Solidarität im Osten

Ungarns Premier Viktor Orbán
Ungarns Premier Viktor OrbánREUTERS
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In der Flüchtlingskrise herrscht zwischen Wien und Budapest böses Blut. Ungarns Premier personifiziert den neuen politischen Graben in Europa.

Wie sich manche Szenen gleichen, wie sie zurück in die Vergangenheit weisen und wie sich der einstige Aufbruch mit einem Mal ins Gegenteil verkehrt hat: Fast sechs Jahrzehnte ist es her, dass zehntausende ungarische Flüchtlinge im Zug der Niederschlagung des Volksaufstands im Herbst 1956 über die österreichischen Grenzen strömten, und vor mehr als einem Vierteljahrhundert durchschnitten die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn den Eisernen Vorhang, um tausenden DDR-Flüchtlingen den Weg in die Freiheit zu ebnen. Der hochgradig symbolische Akt markierte den Anfang vom Ende des Kalten Kriegs. Nach langer Trennung lagen sich die Cousins der k. u. k. Monarchie in den Armen, und Euphorie machte sich breit.

Nun aber, da die Ungarn einen Grenzzaun an ihrer Südgrenze errichtet haben, und sich neuerlich ein Flüchtlingstreck auf den Weg nach Österreich wälzt, sind die zuletzt ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen Wien und Budapest ramponiert wie seit Langem nicht. Wo in der aktuellen Flüchtlingskrise angesichts des anschwellenden Migrantenstroms an der Donau Kooperation und Krisenmanagement gefragt wären, dominieren gegenseitige Schuldzuweisungen, erbitterte Kritik und kaum verhohlene Verachtung. Da bezichtigt der eine den anderen süffisant der Unfähigkeit, da zitiert der eine den Botschafter des anderen Staates ins Außenministerium – und vice versa.


Hinter der Entfremdung zwischen Österreich und Ungarn verbirgt sich mehr als nur ein offenkundig persönliches Zerwürfnis zwischen dem Sozialdemokraten Werner Faymann und dem Rechtskonservativen Viktor Orbán, dahinter stecken politisch-ideologische Differenzen – ein politischer Graben, der sich zwischen dem West- und Osteuropa alter Prägung auftut.

Ungarn befindet sich unbestritten in einem Dilemma. In der Theorie will sich die Regierung in Budapest bei der Aufnahme und Registrierung der Flüchtlinge streng an die Buchstaben des Gesetzes und die Paragrafen des Schengen-Abkommens halten, in der Praxis ist sie indessen völlig überfordert und potenziert so das Chaos, das sich dieser Tage in den Auffanglagern und auf den Bahnhöfen des Landes ausgebreitet hat. 150.000 Asylwerber sind heuer bereits nach Ungarn gekommen – und angesichts des martialischen Gehabes der Sicherheitskräfte und der strikten Gesetzespraxis zum Großteil weitergezogen.

Es regiert Management by Chaos: Da führt Ungarn mit einem billigen Täuschungsmanöver die Flüchtlinge in die Irre, indem es verspricht, sie in Züge in Richtung Westen zu setzen, um sie kurz darauf zu stoppen; da ziehen Tausende über die Autobahn, bis sich die Sicherheitskräfte nicht mehr anders zu helfen wissen, als sie in Bussen an die burgenländische Grenze zu karren; da lassen die ungarischen Behörden die österreichischen Stellen im Dunklen darüber, wann, wie und wie viele Flüchtlinge sie losgeschickt haben. Es fehlt schlicht an Kommunikation. Der Regierungschef selbst war, so Faymanns Vorwurf, zeitweise „incommunicado“ – wobei Aussage gegen Aussage steht. Als die Flüchtlingskrise in der Nacht auf Samstag zu eskalieren drohte, gerierte sich Orbán beim Länderspiel Ungarn gegen Rumänien als oberster Fußballfan im Stadion.


In Teilen der EU ist der Premier mit den zunehmend autokratischen Zügen längst zum Buhmann avanciert. Das innenpolitische Kalkül scheint ihm allemal wichtiger als sein Image und das seines Landes. Attacken gegen seine Parteifreundin Angela Merkel tragen ihm in Ungarn Applaus ein. Kritik wie die von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn („Man muss sich manchmal für Viktor Orbán schämen“) perlt am selbst ernannten Verfechter eines „christlichen Europas“ dagegen ab, der vor einer neuen Völkerwanderung warnt und somit eine muslimische Mehrheit insinuiert. Die Mehrheit seiner Landsleute weiß er hinter sich – ebenso übrigens wie die ost- und mitteleuropäischen Partner Slowakei, Tschechien und Polen. Politiker wie Miloš Zeman und Václav Klaus sprechen seine Sprache. Wie sehr ihre Länder seit der Öffnung von der EU profitiert haben, verschweigen sie geflissentlich, und die Zeit der Solidarität, die den Kommunismus aufgeweicht hat, ist für sie passé.

E-Mails an: thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2015)

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