Irgendwann wird Deutschland Grenzen setzen müssen

epaselect AUSTRIA REFUGEES MIGRATION CRISIS
epaselect AUSTRIA REFUGEES MIGRATION CRISIS(c) APA/EPA/HELMUT FOHRINGER
  • Drucken

Angela Merkel hat großherzig die Tore geöffnet, damit aber auch Zehntausende zur Flucht animiert. Sie muss endlich handeln und eine EU-Lösung forcieren.

Was sich in Europa abspielt, ist beispiellos in der jüngeren Geschichte und hat längst die Dimensionen der Fluchtbewegungen nach dem Ungarn-Aufstand 1956 und nach den Jugoslawien-Kriegen überstiegen. Eine solche Massenwanderung quer durch den Kontinent hat es seit 1945 nicht mehr gegeben. Tag für Tag bahnt sich ein gewaltiger Flüchtlingstreck nahezu ungehindert seinen Weg in Richtung Norden. Die „Festung Europa“ ist zu einem Durchhaus geworden. Fast alle wollen nach Deutschland, manche auch weiter nach Schweden. Die Migranten gehen dorthin, wo sie sich die besten Chancen auf Asyl und ein angenehmes Leben ausrechnen, auch wenn sie zwischen Portugal und Finnland genauso gut anderswo Schutz vor Verfolgung finden könnten, übrigens auch außerhalb Europas.

Österreich, das heuer im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl innerhalb der EU zu den Spitzenländern bei der Aufnahme von Flüchtlingen gehört, ist bei dieser großen Tour der verzweifelt Hoffenden mittlerweile ein Transitland. Das relativiert nicht die Hilfsbereitschaft der Österreicher. Es rührt das Herz, wie bereitwillig Bürger den erschöpften Flüchtlingen helfen, mit Kleidung, Decken, Getränken, Essen, mit netten Gesten. Und trotzdem: Allein der Weitertransport und die zeitweilige Unterbringung der durchreisenden Menschenmassen sind logistisch derzeit kaum noch zu bewältigen. Wie angespannt muss die Situation erst in Deutschland sein? Wobei: Man möge sich immer vor Augen halten, dass ärmere Staaten, die Nachbarn des Bürgerkriegslandes Syrien, seit Jahren ungleich mehr Flüchtlinge aufnehmen.

Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, zeigte Herz, als sie die Pforten öffnete und die Dublin-Regeln für Syrer außer Kraft setzte. Das war zweifellos ehrenhaft. Und es wäre ja auch moralisch nicht vertretbar, Kriegsflüchtlinge nach dem Buchstaben der Dublin-Verordnung wieder nach Ungarn oder Griechenland zurückzuschicken. Doch Merkel hätte es nicht öffentlich hinausposaunen sollen. Denn so ist ein ungeheurer Sog-Effekt entstanden, den keiner mehr kontrollieren kann. Seither wollen fast alle Flüchtlinge nur noch nach Deutschland. Der Nachschub ist unerschöpflich, vier Millionen Syrer sind bereits ins nahe Ausland geflohen, mehr als sieben Millionen Vertriebene in ihrer ausgebluteten Heimat geblieben. Dazu kommen unzählige Afghanen und Eritreer, zudem Wirtschaftsflüchtlinge.

Auf Dauer wird auch das großzügige Deutschland dem Flüchtlingsansturm nicht standhalten. Es kann vielleicht 800.000 Menschen aufnehmen, aber keine Millionen. Schon murren CSU-Regierungspolitiker in Bayern. Die Stimmung dreht sich, das Sommermärchen neigt sich dem Ende zu. Noch erwidert Merkel trotzig, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Obergrenze, und richtet damit wieder eine anfeuernde Botschaft an Flüchtlinge. Doch irgendwann wird auch sie ein Limit setzen müssen.


Irgendwann wird sie den übrigen EU-Mitgliedsländern und auch dem Rest der Welt deutlich zeigen müssen, dass Deutschland die Flüchtlingskrise nicht allein schultern kann. Irgendwann wird sie vielleicht sogar die Grenzen schließen müssen, weil es einfach nicht mehr so weitergeht. Vielleicht erkennt Europa dann, dass es diese existenzielle Herausforderung nur gemeinsam lösen kann. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch: Die EU muss ihre Außengrenze kontrollieren, den Zustrom an Flüchtlingen steuern und möglichst gleichmäßig auf alle Mitglieder verteilen. Merkel müsste diesen Prozess antreiben. Doch bisher gestaltet sie nicht, sondern erduldet bloß passiv. Und die anderen nützen ihre Gutmütigkeit aus. Es ist unverständlich, warum die deutsche Kanzlerin nicht mit aller Macht auf einen sofortigen EU-Sondergipfel drängt, warum sie nicht längst in Blitzbesuchen versucht, eine bessere Kooperation mit den Behörden in der Türkei und Griechenland zu suchen, die Flüchtlinge seit Monaten einfach nur durchwinken.

Es gehört zu Merkels Mythos, dass sie als „Mater Europae“ Probleme behutsam durchdenkt und dann umsichtig-souverän löst. Doch ihre Passivität macht manchmal Probleme nur größer. Man kennt das – aus der Griechenland-Krise.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Balkanroute: Flüchtlingsansturm wird noch zunehmen

Die slowenischen Behörden rechnen in den nächsten Tagen mit bis zu 10.000 Flüchtlingen. Kroatischer Premier an Serbien: "Schickt sie nach Ungarn."
Anti-Islamisten-Razzia in Berlin
Weltjournal

Deutschland: Radikalisierung von Flüchtlingen droht

Laut Verfassungsschutz versuchen Islamisten, unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe, Asylwerber zu missionieren und zu rekrutieren.
Außenpolitik

Flucht aus der Türkei: Zu Fuß statt im Schlauchboot

Die vielen Unglücksfälle auf dem Meer haben Flüchtlinge dazu bewogen, auf dem Landweg nach Europa zu fliehen. Von Edirne aus geht es nach Griechenland oder Bulgarien.
Europa

EU-Deal: Aufteilung und Eindämmung

EU-Innenminister dürften heute über Verteilung von 120.000 Asylwerbern entscheiden. Bei EU-Gipfel wird über Maßnahmen an Grenzen und in Herkunftsländern beraten.
Regierungschef Aleksandar Vucic
Außenpolitik

Neuer Streit zwischen Serbien und Kroatien wegen Grenzsperre

Serbiens Ministerpräsident Vucic ließ offen, welche Maßnahmen sein Land ergreifen werde, sollte Kroatien die gesperrten grenzübergänge nicht wieder öffnen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.