Ganz ehrlich, wollen wir diese Art eines gemeinsamen Europas noch?

In der EU haben Politiker eine nationale Scheinwelt errichtet. Sie ist schon so präsent, dass sie Lösungsansätze in akuten Krisen verhindert.

Es ist eine hochriskante emotionale Schubumkehr: Ein Europa, das von London über Dresden bis Budapest von geschlossenen Grenzen träumt, macht ebendiese Grenzen wochenlang auf. Der humane Akt, zehntausenden Flüchtlingen den Weg in die Sicherheit zu öffnen, mag völkerrechtlich und menschlich völlig richtig sein. Nur: Die europäische Öffentlichkeit wird seit Jahren auf genau das Gegenteil eingeschworen. Das Bild von einem Zurück zu einer kleinräumigen, isolierten Beschaulichkeit, von Sicherheit und geschütztem Wohlstand war die Antwort fast aller politischen Parteien auf die Herausforderungen der Globalisierung.

Dieselben Politiker, die daheim solche Illusionen pflegten, nutzten über Jahre die EU als Plattform einer völlig anderen Politik. Einer Politik, die hinter verschlossenen Türen weit realistischer mit den neuen Fakten umging: Der Übermacht des Dollar und dem sinnlosen gegenseitigen Verschleiß durch nationale Währungen antworteten sie mit dem Euro. Der Logik des Weltmarkts, die den Nationalstaat als Wirtschafts- und Lebensraum auflöste, stellten sie den europäischen Binnenmarkt und die kontinentale Freizügigkeit für Arbeitnehmer entgegen.

Die mittlerweile 28 Regierungen haben all das zuwege gebracht. Deshalb, sollte man glauben, müssten sie auch fähig sein, ihr gemeinsames Konstrukt in schwierigen Zeiten zu verteidigen. Doch da ist nur Zögern. Die Griechenland-Krise hat sich viele Jahre lang abgezeichnet. Sie hätte mit frühen Antworten, mit Beschlüssen zu europäischen Aufsichtsorganen für alle Euro-Mitglieder eingedämmt werden können. Aber das ist nicht geschehen. Die Flüchtlingskrise hat sich ebenfalls seit Jahren angekündigt, doch es wurden auch hier keine gemeinsamen politischen Maßnahmen gesetzt. Und selbst jetzt brauchte es Wochen, bis sich die Staats- und Regierungschefs der Union endlich zu diesem Problem zusammensetzen.

Statt sich den gemeinsamen Herausforderungen zu stellen, verkrochen sich die Verantwortlichen. Wahrscheinlich haben sie befürchtet, dass der Widerspruch zwischen nationalen Abgrenzungsträumen und einer Politik, die auf globale Gegebenheiten reagieren muss, auffliegt. Die von ihnen zugelassene nationale Scheinwelt ist so präsent geworden, dass sie die Realität längst beeinflusst. In Großbritannien wirbt eine rechtsliberale Regierung für das Ende der Personenfreizügigkeit. In Ungarn werden Zäune hochgezogen. In der Slowakei und in Tschechien wird jegliche Mitverantwortung für die Lösung des Flüchtlingsproblems abgelehnt. In Griechenland wird von den höchsten Stellen des Staates versucht, die gemeinsam vereinbarten Regeln der Haushaltssanierung zu unterlaufen. Es braucht nicht viel Fantasie, sich die Fortsetzung dieser Dynamik vorzustellen – immer mehr national kontrollierte oder gar verschlossene Grenzen, eine schwer beschädigte oder gar zusammengeschrumpfte Währungsunion.

Der Scheinwelt ist es geschuldet, dass es seit Jahren in vielen Mitgliedstaaten nur noch darum geht, wie europäische Entscheidungen möglichst effizient eingedämmt oder gar verhindert werden können. Sie hat dazu beigetragen, dass die EU nicht mehr funktioniert, wenn sie plötzlich gefordert ist. Etwa, wenn es darum geht, mit einem Bündel an Maßnahmen – von der solidarischen Aufteilung über einheitliche Asylstandards bis hin zu der massiven Hilfe in den Herkunftsländern – diese gewaltige Flüchtlingswelle zu bewältigen.


Wollen wir diese Art eines gemeinsamen Europas wirklich noch haben, diese von nationalen Interessen untergrabene und träge EU? Wollen wir eine Gemeinschaft, die sich künftig darauf beschränkt, ein paar Waren von Amazon und Co. ohne Zölle über Grenzen zu lassen, dasselbe aber Menschen, die ihre Arbeitsleistung verkaufen wollen, verweigert? Ist es ein erstrebenswertes Ziel, mit Tränengas und Wasserwerfern Menschen davon abzuhalten, sich in Sicherheit zu bringen? Wollen wir einer gewaltigen globalen Wirtschaftsdynamik mit geschützten, kleinen Märkten entgegentreten? Kann jemand glauben, dass ein gemeinsames Europa handlungsfähig bleibt, in dem es nur noch darum geht, den anderen verlieren zu lassen?

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2015)

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