Frankreich, die erschöpfte Nation am Limit des Terrorkriegs

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GERMANY-FRANCE-ATTACKAPA/AFP/JOHN MACDOUGALL
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Das dritte Attentat in 18 Monaten stellt die Widerstandskraft eines ausgezehrten Landes auf die Probe. Die Appelle von François Hollande und Co. klingen schal.

Was zählten angesichts der Terrornacht in Nizza, des zugleich perfiden wie primitiven Angriffs auf die Grundwerte der Nation, schon die Kalamitäten um den kostspieligen Leibfigaro, den eigenmächtigen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron oder die Schlappe im EM-Finale im Stade de France? In den Tagen nach der kurzzeitigen Euphorie um die Fußballeuropameisterschaft und der Erleichterung wegen der trügerischen Ruhe in den Straßen und Fanzonen des Landes ist neuerlich das ganze Unheil über Frankreich und seinen Präsidenten hereingebrochen – und dies just am Nationalfeiertag, der jährlichen Beschwörung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, den ramponierten Prinzipien der Republik.

Am Vormittag des 14. Juli hatte François Hollande, der so glücklose wie lahme Staatschef, bei der Parade auf der Pariser Prachtmeile, den Champs-Élysées, die militärische Stärke der von Krisen und Terror geplagten Nation demonstriert. Im traditionellen TV-Interview versuchte er hernach, Optimismus zu versprühen, um seine ohnehin nur minimalen Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr zu wahren. Die Umfragewerte für den Präsidenten waren zuletzt erneut auf einen Tiefstand gefallen. Was die Frage aufwirft, ob sich die Franzosen nach dem dritten horriblen Attentat innerhalb von 18 Monaten – nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und den koscher-jüdischen Supermarkt im Jänner 2015 und nach der konzertierten Terrorserie mit mehr als 130 Toten vor acht Monaten – noch einmal um Hollande scharen, der in Krisenzeiten seine stärksten Momente hat?

Im Interview analysierte er treffend, und womöglich beschlich ihn sogar eine Vorahnung: „Ich muss Frankreich schützen. Es ist in einem fragilen Zustand, und es kann jeden Augenblick zerbrechen.“ Da wusste er indes noch nicht, dass er sich in der Nacht, kaum zwölf Stunden später, noch einmal an die Nation wenden würde. Nach der Hiobsbotschaft aus Nizza eilte er vom Theaterfestival in Avignon nach Paris zurück, um in einer TV-Ansprache seine Landsleute aufzurichten. „Ganz Frankreich ist vom islamistischen Terrorismus bedroht“, konstatierte er. Dass Frankreich einen Krieg gegen den Terror führt, dass der Ausnahmezustand weiter aufrechtbleibt, mutet wie das Mantra vom „schwarzen Freitag“ an, dem 13. November 2015, dem dunkelsten Tag in der jüngeren Geschichte des Landes.

Wie widerstandsfähig ist Frankreich, wie erschöpft und wie zermürbt sind die Franzosen und ihr Präsident nach Jahren der wirtschaftlichen Malaise, des politischen Stillstands, der heimtückischen Terrorattacken? Die Ressourcen der Sicherheitskräfte sind nach der Überlastung im Zuge der Fußball-EM jedenfalls aufgebraucht. Als Oberbefehlshaber versetzte Hollande schon die Reserveeinheiten in Alarmbereitschaft.

Der Kraftakt im Kampf gegen den Terrorismus hat Frankreich möglicherweise überfordert, es scheint am Limit angelangt. Das Aufflackern der Lebensfreude ist nach dem Feuerwerk in Nizza und dem anschließenden Blutbad jäh verflogen. Es zeigt sich von Neuem, dass der Terror in einer Gesellschaft schlummert, in der sich die Probleme im mehrheitlich muslimischen Migrantenmilieu an der Peripherie ballen, in den Wohnsilos der Banlieues und ihrer Perspektivlosigkeit, wo nur die Klügsten, Stärksten und Zähesten die Integration schaffen.


Mehr denn je greift im Land die Unsicherheit um sich. Die Sondermaßnahmen, die Aufstockung der Einsatzkräfte und des Sicherheitsbudgets, die Spezialüberwachung der Verdächtigen, die Razzien – all dies konnte einen neuen Anschlag nicht vereiteln. Ein Massaker wie jenes des Frankotunesiers Mohammed Lahouaiej-Bouhlel an der von Palmen gesäumten Promenade des Anglais, der Flaniermeile, wo sich Touristen in der Sonne räkeln, ist selbst mit ausgefeiltesten Präventivmethoden nicht zu verhindern. Dies ist das deprimierend-ernüchternde Fazit mitten in der Urlaubssaison, und die Puppe neben einer mit einer goldenen Folie verhüllten Leiche gemahnt uns an die Gefahr – immer und überall, und nicht allein in Paris, sondern auch in Nizza, in der Provence, einer Bastion der radikalen Islamszene und des rechtspopulistischen Front National.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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