Zu wem sprechen Sie, Präsident Juncker?

European Commission President Juncker addresses the European Parliament during a debate on The State of the European Union in Strasbourg
European Commission President Juncker addresses the European Parliament during a debate on The State of the European Union in Strasbourg(c) REUTERS (VINCENT KESSLER)
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Der EU-Kommissionspräsident listet seine Projekte auf, handelt europäisch, verflucht den Populismus und findet doch keinen Draht zu den Bürgern.

Jean Claude Juncker wäre vor 15 Jahren der perfekte Kommissionspräsident gewesen. Ein Paradeeuropäer, der die Gunst der Stunde besser als der damals schon etwas ideenlos wirkende Romano Prodi hätte nutzen können. Er wäre der richtige Mann gewesen, die Europäische Union nach der Wende zu neuen Integrationsschritten zu geleiten, weil er ausreichende Begeisterung für das gemeinsame Projekt mitbrachte und er in den zu dieser Zeit dominierenden Gründungsstaaten ausgezeichnet vernetzt war. Heute wirkt der Luxemburger etwas deplatziert.

In seiner Rede zur Lage der Union hat er durch das komplexe Aufgabenfeld der Kommission geführt – von den Handelsverträgen, der Wettbewerbskontrolle bis hin zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Aber an wen hat er seine Rede gerichtet? An die EU-Parlamentarier, die ihm mehrheitlich applaudiert haben, an die EU-Regierungschefs, die sich mittlerweile in ihrer nationalen Parallelwelt eingerichtet haben, oder doch an die über 500Millionen Bürger der EU, die das Gefühl für Sinn und Zweck dieser Gemeinschaft verloren haben? Juncker appellierte an die Parlamentarier, kritisierte die Regierungschefs, die Bürger erreichte er nicht.

Ihre Sorgen und Ängste, ob sie nun von Boulevardmedien oder populistischen Politikern verstärkt werden, sind ein Faktum. Sie sind die Ursache für die Existenzkrise der EU. Diese Menschen irritieren eine ungelöste Flüchtlingskrise, die von Terrorismus beeinträchtigte Sicherheit und die Auswirkungen der Globalisierung. Sie haben ein tief sitzendes Gefühl, dass da etwas schiefläuft, etwas ungerecht geworden ist.

Die Zeit, in der in Brüssel Lösungsvorschläge erarbeitet worden sind und alle sie durchgewinkt haben, ist vorbei. Juncker denkt eindimensional europäisch. Er prangert zu Recht den störenden Populismus an. Aber er erkennt nicht an, dass sich alle EU-Institutionen heute stärker denn je vor den Bürgern rechtfertigen müssen. Ein ausgeweitetes Investitionsprogramm ist sinnvoll, um die Finanzierungslücken in der Privatwirtschaft zu stoppen. Ein digitaler Binnenmarkt samt Auflösung des Roamings ist richtig, um Europa konkurrenzfähig zu machen. Letztlich muss auch Junckers Plan für eine Verteidigungsunion als logische Konsequenz einer unsicheren Nachbarschaft bewertet werden. Alles ist gut, alles logisch, aber wo greift dieser Kommissionspräsident die Sorgen auf, wo antwortet er den Bürgern?

Natürlich sind einzelne nationale Regierungen schuld, dass eine notwendige europäische Politik nicht erklärt wird, weil kaum ein Regierungschef noch zu heiklen Beschlüssen wie etwa dem TTIP-Mandat steht. Sie schummeln sich aus der Verantwortung und gaukeln der Bevölkerung vor, sie würden nur nationale Interessen schützen.

Die EU-Kommission setzt trotz dieser Rahmenbedingungen jedes Jahr noch ein Stück drauf. Sie will noch mehr Handelsabkommen, einen neuen gemeinsamen Grenzschutz, eine stärkere militärische Zusammenarbeit bis hin zu einer EU-Armee. Juncker kündigt solche logischen Schritte an, ohne deren Durchsetzbarkeit im Auge zu behalten. Europäisch orientierte Politiker wie er dürfen zwar nicht das Projekt aus den Augen verlieren, aber sie müssen es – wenn schon nicht bei den nationalen Regierungen – dann endlich direkt bei den Menschen verankern.

Dafür reicht manchmal ein wenig Empathie: Es geht nämlich nicht nur um das Wettbewerbsrecht im EU-Binnenmarkt, wenn US-Konzerne wie Apple ihre Steuern trickreich minimieren. Es geht auch um Verteilungsgerechtigkeit. In der Flüchtlingskrise geht es nicht nur um die Umsetzung einer spröden Dublin-Verordnung, sondern es geht um die Frage: Wie viele dieser Schutzsuchenden kann ein Land aufnehmen – wo ist hier die Gerechtigkeit? Oder bei TTIP und Ceta: Es geht nicht nur um Europas Verankerung in der Welt, um Standards und Investorenschutz. Es geht auch um die Gerechtigkeit zwischen kleinen und großen Unternehmen.

Die Zeit der Metaebene, auf der Juncker einst vielleicht hätte spielen können, ist vorbei. EU-Politik muss heute heruntergebrochen, jedesmal aufwendig erklärt und vor allem gerechtfertigt werden.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2016)

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