Präsident Erdoğan errichtet eine autoritäre Willkürherrschaft in der Türkei, und Europa sieht ihm dabei zu. Die EU gibt sich selbst auf, wenn sie Beitrittsverhandlungen mit Ankara nicht bald einfriert.
Am 24. November forderten die Abgeordneten des EU-Parlaments mit überwältigender Mehrheit, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei „angesichts der unverhältnismäßigen Repressionen“ seit dem gescheiterten Juli-Putsch einzufrieren. Außer einem kleinen Wutausbruch und der Drohung, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, hatte der türkische Präsident für die Resolution nur Verachtung übrig. Der Beschluss sei für die Türkei wertlos, richtete Recep Tayyip Erdoğan aus. Seine Analyse traf zu. Die Straßburger Erklärung war für die Kommission und die Mitgliedsstaaten weder rechtlich noch politisch bindend. Und tatsächlich setzt die EU nun ihren – unehrlichen – Türkei-Kurs einfach ungerührt fort, als ob im Präsidentenpalast von Ankara ein Westminster-Demokrat und Menschenrechtsfanatiker erster Güte säße.
Im Entwurf für die Ratsschlussfolgerungen, den die EU-Außenminister am Dienstag beschließen sollen, ist nicht einmal ein Warnschild für Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei auszumachen. Da fällt es schwer zu sagen, wer dem Europaparlament mehr Missachtung entgegenbringt: Erdoğan, die Kommission oder die EU-Regierungen.
Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz, handelt richtig, wenn er symbolischen Widerstand leistet und damit droht, den Routinebeschluss seiner Amtskollegen zu blockieren. Konkrete Folgen wird sein Veto nicht haben: Der ohnehin zähe Beitrittsprozess bleibt davon unberührt. Doch Kurz setzt damit ein Zeichen, das nötig ist in Tagen wie diesen, in denen die Türkei in autokratische Willkür abgleitet. Es wäre nicht zu viel verlangt, wenn die Außenminister der EU schriftlich festhielten, dass die türkische Regierung unter gegebenen Umständen nicht mit der Öffnung weiterer Verhandlungskapitel rechnen darf. Doch sogar dafür fehlt der Mut. Zu groß ist die Angst, dass die Türkei das Flüchtlingsabkommen mit der EU kündigen könnte. Europa hat sich erpressbar gemacht – und sich dabei selbst aufgegeben.
In Artikel 5 des EU-Verhandlungsrahmens für die Türkei ist glasklar festgeschrieben, dass die EU-Kommission „von sich aus oder auf Antrag von einem Drittel der Mitgliedstaaten die Aussetzung der Verhandlungen empfehlen“ wird, falls die Staatsführung in Ankara grundlegende Werte der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit schwerwiegend verletzt.
Inakzeptabel. Worauf will Europa warten? So traumatisch der blutige Putsch gewesen sein mag: Erdoğan hat darauf mit einer inakzeptablen Unterdrückungswelle reagiert. In seiner Hexenjagd auf Anhänger der einst mit ihm verbündeten Gülen-Bewegung ließ er Zehntausende Menschen einsperren, nicht nur Polizisten und Soldaten, sondern auch Richter, Professoren und mehr als 100 Journalisten. Nicht einmal Abgeordnete sind vor Festnahmen sicher: Die Führungsriege der kurdischen HDP sitzt in Haft. Und gegen oppositionelle Sozialdemokraten laufen Klagen wegen Präsidentenbeleidigung.
Dass Erdoğan den Putschversuch als Geschenk Allahs bezeichnete, war kein Zufall. Er nützt die Krise und seinen Mehrfrontenkrieg gegen Kurden und IS-Jihadisten, um sich ein neues Präsidialsystem auf den Leib zu schneidern, das Parlament zu entmachten und auch über den Ausnahmezustand hinaus per Dekret regieren zu können. Am gestrigen Samstag brachte er seine lang ersehnte Verfassungsreform im Parlament ein.
Es ist dem aufgeklärten und proeuropäischen Teil der türkischen Bevölkerung nicht geholfen, wenn die EU weiterhin nur zuschaut, wie das Land am Bosporus in diktaturähnliche Verhältnisse abdriftet. Europa muss endlich handeln und die Beitrittsverhandlungen mit Ankara einfrieren. Auf gutes Zureden reagiert Erdoğan nicht. Er braucht Druck, wie man in seinem Konflikt mit Russland gesehen hat. Am effektivsten könnte sich dabei der wirtschaftliche Hebel erweisen: Die Lira ist im freien Fall, der Tourismus am Boden. Und die Türkei mehr denn je auf Europa als Handels- und Investitionspartner angewiesen. Nicht umgekehrt.
christian.ultsch@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2016)