Eine Republik zwischen Angst, Agonie und Aufruhr

Die Alternative Frankreichs bei der Stichwahl im Mai: zurück in den Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder mit Courage voran in die Zukunft.

Es wäre nicht Frankreich, wäre nicht im Wahlkampf und am Wahlabend selbst viel von Revolution und Widerstand die Rede gewesen, von Systemkrise und Wandel und natürlich von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Ideale von 1789 sind als Kitt einer von sozialen Gegensätzen zerrissenen, von der Globalisierung verunsicherten und vom Terrortrauma gezeichneten Gesellschaft längst brüchig. Wenngleich die Glorie der Nation als politische und wirtschaftliche Großmacht ramponiert ist, so ist zumindest der Ruf Frankreichs als Europameister in Sachen Selbstreflexion und Debattenkultur unerreicht. Dass die Diskussion durchdrungen ist von Pessimismus und zuweilen von Masochismus, von der Lust am Niedergang, ist Teil der französischen Psyche.

Das Pathos, das in diesen Frühlingstagen – wie alle fünf Jahre – durch die Wahlkampfarenen und TV-Studios dröhnt, klingt für die meisten Franzosen inzwischen hohl. Der Ausnahmezustand und die Nervosität angesichts der Terrorangriffe nagen an ihnen. Sie sehnen sich nach einem Aufbruch aus der mitunter herbeibeschworenen Misere. Zugleich sollte sich aber nicht allzu viel ändern für das persönliche Wohlbefinden. So spiegelten die vergangenen Wochen und der erste Durchgang der Präsidentenwahl am Sonntag ein Land, das zwischen Angst und Agonie schwankt, zwischen Depression und Aufruhr taumelt – und das vor allem den Glauben an sich, seine Politiker und deren gestalterische Kraft verloren hat.

Es ist eine Ironie, dass sich die neben Marine Le Pen aussichtsreichsten Anwärter – Emmanuel Macron, François Fillon und Jean-Luc Mélenchon – zu Außenseitern stilisierten, obwohl sie direkt dem Establishment und seinen Kaderschmieden entspringen. Sie wollten einen Bruch mit den Eliten und den Traditionsparteien signalisieren, denen sie ihren Aufstieg zu verdanken haben. Noch nie in der Fünften Republik waren der Frust über das Parteiensystem und der Abscheu über das Ançien Régime so ausgeprägt. Die Wähler waren der Versprechen überdrüssig, die sich nur als leere Phrasen erwiesen haben; sie waren des Stillstands leid, die die Präsidenten seit der Spätphase François Mitterrands produziert haben. Der gravitätische Jacques Chirac, der hyperaktive Nicolas Sarkozy und der phlegmatische François Hollande – sie symbolisierten den steten Abwärtstrend einer Nation.

Inklusive der weißen Stimmzettel brachte rund ein Drittel der Franzosen den Verdruss mit demonstrativer Wahlenthaltung zum Ausdruck, ein Drittel votierte für die Kandidaten der extremen Rechten und Linken – und der Rest teilte sich auf Macron, Fillon und ein paar Zählkandidaten auf. Das Land ist noch voller Zweifel, wohin es sich wenden soll und wen es am ehesten für geeignet hält, es aus der Krise zu führen.


Abschottung, Protektionismus und eine Rückkehr zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts, so lautet die Devise des Front National unter Marine Le Pen, die unter dem Slogan „Im Namen des Volks“ als Schutzherrin des „wahren Frankreich“ auftrat. „Frankreich den Franzosen“, schallte es bei ihren Kundgebungen zwischen Ärmelkanal und Côte d'Azur. Überall ertönte die Parole: „On est chez nous“, was so viel heißt wie: „Wir sind hier zu Hause.“ Die Rechtspopulistin hat sich das subjektive Gefühl der „Überfremdung“ und die Angst vor der Kriminalität in den Banlieues zunutze gemacht, die zugleich Brutstätten des Terrors sind. Die weitverbreiteten Ressentiments gegen Muslime und die Brüsseler Bürokratie verquickte sie zu einer rückwärtsgewandten Suada.

Emmanuel Macron, der mit „En Marche!“ eine eigene Bewegung ins Leben rief, die unter dem Schlachtruf „Vorwärts“ nach vorn blickt, weckte dagegen die Courage und den Optimismus seiner zumeist jungen Landsleute, die der Zukunft und vor allem Europa offen gegenüberstehen. Wie Fillon versprach er zudem dringend notwendige Strukturmaßnahmen, die den Reformstau auflösen.

Zwischen diesen Alternativen wird sich Frankreich am 7. Mai zu entscheiden haben. Wenn es zutrifft, dass die Franzosen in der ersten Runde mit dem Herzen wählen und in der zweiten mit dem Kopf und im republikanischen Konsens, dürfte die Sache schon gelaufen sein.

E-Mails an:thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2017)

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