Leitartikel

Warum Schadenfreude beim Brexit nicht angebracht ist

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Die Europäer berauschen sich an den Chancen, die der bevorstehende EU-Austritt Großbritanniens und der Wahlsieg Emmanuel Macrons bieten.

Wenn zwei entgegengesetzte Entwicklungen auf ein und dieselbe Art und Weise begründet werden können, ist allergrößte Vorsicht angebracht. Wer sich dieser Tage über den politischen Aggregatzustand der Europäischen Union Gedanken macht, sollte den obigen Merksatz unbedingt im Hinterkopf behalten. Als im Dezember des Vorjahres mit Verweis auf das britische EU-Austrittsvotum und den Wahlsieg von Donald Trump das Ende der Union heraufbeschworen wurde, galt der Triumph der Demagogen in Großbritannien und den USA noch als Vorbote des bevorstehenden Zusammenbruchs aller gemeinschaftlichen Strukturen. Sechs Monate später sind die prophezeiten Auflösungserscheinungen nicht zu erkennen. Und die Erklärung für den abgesagten Untergang des Abendlandes lautet erneut – Brexit und Trump. Das Schreckgespenst des außer Rand und Band geratenen angelsächsischen Populismus habe den Wählern den Wert einer stabilen Mitte vor Augen geführt, heißt es nun, Europas Existenzkrise sei damit überwunden.

Ganz so simpel ist es natürlich nicht. Die EU war vor sechs Monaten nicht am Auseinanderbrechen, und sie befindet sich heute nicht in einem Höhenflug, auch wenn manch ein enthusiasmierter Europafreund das nun glauben mag. Was sich in der Tat verbessert hat, ist die Haltung der EU-Bürger zur Union. Doch diese positive Entwicklung lässt sich mindestens ebenso gut mit der statistischen Regression zur Mitte erklären – nach einem Extremereignis liegt der nächste Messwert zwangsläufig näher am Durchschnitt. Anders formuliert: Selbst der allergrößte Hysteriker muss einmal durchatmen, selbst einem überzeugten Pessimisten huscht ab und zu ein Lächeln über das Gesicht.

Das derzeitige Gefühl in Brüssel kennt jeder, der schon einmal bei einem Unfall glimpflich davongekommen ist – eine bis in die letzte Körperfaser spürbare Erleichterung. Paradoxerweise ist die Situation, in der sich die EU momentan befindet, nicht mit einem Unfall zu vergleichen, sondern eher mit einer unüberschaubaren Großbaustelle. Migration, Terrorbekämpfung, Eurokrise, Handelspolitik, Budgetdisziplin, Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien im Osten der EU, Flüchtlingsverteilung – an jeder Ecke müsste schleunigst zugepackt werden. Die bevorstehenden Verhandlungen mit London sind dabei noch ein vergleichsweise kleines Problem.


Dass der Brexit nicht zu einer existenziellen Bewährungsprobe für die Europäer wurde, hat einerseits mit der Einheit der EU-27 zu tun, andererseits mit den Akteuren jenseits des Ärmelkanals. Das Team, das Theresa May um sich versammelt hat, wirkt wie eine Schar dilettierender Gentleman-Alpinisten am Hang des Mount Everest: Während der Führer mit wachsender Verzweiflung nach dem Gipfel sucht, streitet die Seilschaft darüber, welche Aufstiegsroute die schönsten Aussichten bietet.

Der größte Fehler, den Premierministerin May gemacht hat, war nicht die Ausrufung vorgezogener Neuwahlen, sondern die Einleitung des zweijährigen Austrittsprozesses noch vor dem Votum. Denn dieser Countdown lässt sich nur mit Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten (also de facto gar nicht) anhalten. Um beim Vokabular des Hochalpinismus zu bleiben: In spätestens einem Jahr erreichen die Briten die Todeszone. Gibt es bis Herbst keine Einigung, geht den Sherpas der Sauerstoff aus – und der Brexit wird zum Exitus ohne jegliche Nachfolgeregelung.

Schadenfreude auf dem Kontinent ist angesichts der blamablen britischen Performance zwar verständlich, aber überflüssig. Verständlich, weil sie den Europäern zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl gibt, nicht zu den Losern zu zählen. Und überflüssig, weil sie davon ablenkt, dass auf der EU-Großbaustelle bis dato wenig bis gar nichts weitergegangen ist. Momentan lebt Europa im Konjunktiv und berauscht sich an den Möglichkeiten, die der Brexit, der Wahltriumph Emmanuel Macrons in Frankreich und die sich abzeichnende Wiederwahl Angela Merkels in Deutschland bieten. Ob diese Chancen ergriffen werden, steht auf einem anderen Blatt. Beim konstruktiven Umgang mit Krisen ist die bisherige Bilanz der EU bestenfalls durchwachsen.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2017)

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