Leitartikel

Europa als Flohzirkus der Regionen? Bloß nicht

Kataloniens Separatisten haben mit der EU-Praxis der geteilten Souveränität wenig bis gar nichts am Hut. Sie missbrauchen die Union als Sicherheitsnetz.

Es ist ein Traum, wie ihn John Lennon nicht verführerischer hätte beschreiben können: ein Europa ohne Nationalstaaten, ohne Grenzen, ohne aufeinanderprallende Patriotismen, friedlich vereint unter dem blauen Sternenbanner der EU. Eine Union, über die die Europäische Kommission ihre schützende Hand hält, die Bürger nach außen repräsentiert und im Inneren darauf achtet, dass alle Regionen frei von den toxischen Altlasten des 20. Jahrhunderts ihre Zukunft gemeinsam planen können. Imagine there's no countries, it isn't hard to do.

Man mag über derart utopische Visionen schmunzeln, doch sie haben den unbestrittenen Nutzen, eine Richtung vorzugeben und konstruktive Entwicklungen voranzutreiben. Es ist ein wenig wie mit der Religion: Man kann an die Auferstehung Christi glauben, ohne gleich den Lebenswandel seiner Jünger führen zu müssen. Problematisch wird die Sache erst, wenn die Vision als wortwörtliche Gebrauchsanweisung missverstanden wird.

Das führt uns geradewegs zu den jüngsten politischen Turbulenzen in Spanien. Dass die Separatisten in Katalonien einen Bruch mit Madrid herbeisehnen und den Konflikt mit der spanischen Zentralregierung suchen, hat natürlich nichts mit irgendwelchen Aufforderungen zur Abspaltung seitens der EU bzw. ihrer Vertreter zu tun. Es lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass die als gegeben vorausgesetzte Teilhabe am europäischen Friedensprojekt von Sezessionisten aller Couleurs als eine Art Sicherheitsnetz verstanden bzw. missbraucht wird. Wer braucht Madrid, wenn es doch Brüssel gibt?

Es ist kein Zufall, dass die Frage nach der EU-Mitgliedschaft im Falle einer erfolgreichen Abspaltung sowohl in Katalonien als auch wenige Jahre zuvor beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland eine derart große Rolle gespielt hat. Anders formuliert: Gäbe es die EU nicht, und wäre Europa – wie in den vergangenen Jahrhunderten – eine Ansammlung einander mehr oder weniger feindlich gesinnter Staaten, würde die Unabhängigkeitserklärung vielen Katalanen als deutlich riskanteres Manöver erscheinen. Denn im Gegensatz zu den britischen Kolonien in Nordamerika, die 1776 ihre Unabhängigkeit vom Mutterland erklärt hatten, markiert nicht ein schützender Ozean die Grenze zwischen Spanien und Katalonien.


An den Vorgängen auf der iberischen Halbinsel wird das europäische Paradoxon wieder einmal sichtbar. Die EU ist mehr als ein Staatenbund, weniger als ein Bundesstaat – und kann folglich schwer mit lautstark artikuliertem Nationalismus im Namen der europäischen Einheit umgehen. Denn die Spalter in Barcelona sprechen selbstverständlich von nichts anderem als einer friedlichen Zukunft im gemeinsamen Haus Europa, unter dessen Dach sie sich endlich frei entfalten wollen.

Dass Brüssel mehr als skeptisch ist und auf die spanische Verfassung verweist, ist richtig. Denn die europäische Zukunft, die den katalonischen Separatisten vorschwebt, hat nichts mit der EU-Vorstellung von geteilter Souveränität zu tun, sondern vielmehr mit dem Gegenteil davon – sie wollen weg von Madrid, um frei schalten und walten zu können. Das Europa der Regionen, von dem Separatisten sprechen, ist nichts anderes als ein Flohzirkus, in dem die Brüsseler Dompteure zwangsläufig an der Herausforderung scheitern müssen, Dutzende, wenn nicht Hunderte mit Vetorecht ausgestattete Gebietskörperschaften zu bändigen. Dieser Weg führt schnurstracks ins Chaos.

An dieser Stelle mahnende Worte an Madrid und Barcelona zu richten wäre vermessen. Doch ein zweckdienlicher Hinweis auf den Ursprung des Wortes Republik sei gestattet. „Res publica“ bedeutet nichts anderes als „gemeinsame Sache“. Die Katalanen sind Teilhaber ihres Landes – und sie sollten ihren Anteil an Spaniens demokratischer Erbmonarchie, die über Jahrhunderte zusammengewachsen ist, wie eine kostbare Investition behandeln und nicht wie einen faulen Kredit. Die EU hat unbestrittene Vorteile und ist das Beste, was Europa passieren konnte – doch sie ist noch lange keine Republik.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2017)

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