Der Phantomschmerz und seine Kultivierung

Zwei Jahre nach der Abspaltung des Kosovo ist Belgrad mehr auf die Vergangenheit als die Zukunft fokussiert.

Phantomschmerz, der: Schmerzempfindung in einer amputierten Gliedmaße. Er wird dadurch verursacht, dass die Nervenfasern, die für die Empfindungen des amputierten Glieds verantwortlich waren, im Hauptnerv noch vorhanden sind.“ So weit der alte Brockhaus.

Frage: Was ist das Gemeinsame an Serbien und Nokia? Antwort: Die Modelle werden immer kleiner. So weit ein alter Witz. Freilich wirft er Serbien und Jugoslawien durcheinander, doch der Lapsus hat einen wahren Kern: Serbien fühlte sich zu Zeiten des alten Jugoslawien als Herr in Titos Reich. Anfang der 1990er spalteten sich zunächst Slowenien und Kroatien, später Mazedonien und Bosnien-Herzegowina ab. In drei von vier Fällen bedeutete dies Krieg. Von Jugoslawien blieb nur ein Rumpf aus Serbien und Montenegro. Doch auch Letzteres kehrte Belgrad 2006 den Rücken.

Am 17. Februar 2008 schließlich spaltete die albanische Führung der Provinz den Kosovo von Belgrad ab. Was kursierten nicht für Horrorszenarien! Doch die befürchtete Gewaltwelle blieb aus, ebenso ein Massenexodus der Kosovo-Serben aus den Enklaven im Süden des Gebietes. Eine Destabilisierung der Region fand nicht statt.

So weit die guten Nachrichten. Denn eine merkliche Stabilisierung, auf die der Westen gehofft hatte, blieb ebenso aus. Zwei Jahre nach der Zwangsamputation der „Wiege des Serbentums“ wird Serbien nach wie vor von heftigen Phantomschmerzen gebeutelt. Zwar sind die Schreie mit der Zeit leiser geworden, doch auch die Politik der seit Frühling 2008 amtierenden proeuropäischen Regierung ist nicht auf Schmerztherapie orientiert. Sie fährt vielmehr eine teure und aufwendige Doppelstrategie: Einerseits kämpft sie diplomatisch darum, die Amputation rückgängig zu machen und hat dafür auch den Internationalen Gerichtshof angerufen. Außenminister Vuk Jeremić hat dabei sprichwörtlich den Boden unter den Füßen verloren und verbringt wohl mehr Zeit in der Luft als auf festem Untergrund. Die Mission des Weltreisenden: Staaten von der Anerkennung des Kosovo abzubringen.

Gleichzeitig pumpt Belgrad mehrere Millionen Euro monatlich in Parallelstrukturen, um zu verhindern, dass Prishtina seine Autorität über ganz Kosovo ausdehnt. Dabei hat man die Rechnung ohne die Serben in den Enklaven südlich des Flusses Ibar gemacht: Die wissen sehr gut, dass sie nur eine Chance auf ein erträgliches Leben haben, wenn sie sich mit der albanischen Mehrheit arrangieren. Die nördlich des Ibar an der Grenze zum Mutterland kompakt siedelnden Serben sehen dafür keinen Grund. Trotzdem kassieren viele Beamte dort doppelt Lohn, aus Belgrad und Prishtina.


Dass der Internationale Repräsentant Pieter Feith nun Kraft seines Amtes die staatlichen Strukturen des Kosovo auch im Norden durchsetzen will, hat Belgrad und seine Statthalter aufgescheucht. Das werde man zu hintertreiben wissen, tönt es in Endlosschleife, und genau so wird es wohl kommen. Deutlich wird dabei auch die groteske Konstruktion, die der Westen im Kosovo geschaffen hat: Feith hat einen Plan ausgearbeitet, den er in seiner zweiten Funktion – als EU-Repräsentant – nicht unterstützen darf, da ja fünf EU-Mitglieder den Kosovo nicht anerkennen. Feith muss sich also von sich selbst distanzieren. Belgrad sieht mit Behagen zu.

Schmerzen verursacht in Serbien auch wieder Srebrenica: Nach Jahren der Untätigkeit hatte es Präsident Boris Tadić plötzlich eilig, eine Resolution zu dem Massaker durchs Parlament zu bringen. Nahe der ostbosnischen Stadt ermordeten 1995 bosnische Serben unter Mithilfe von Paramilitärs aus Serbien 8000 Muslime. Doch wie es aussieht, hat die Resolution nur eine Chance, wenn auch der serbischen Opfer der Jugoslawien-Kriege gedacht wird. Empathie den Opfern serbischer Aggression gegenüber ist offenbar noch immer nicht bedingungslos möglich. Wie ein kleines Kind deutet man auf andere und sagt: Aber die haben auch.

Und so will die Vergangenheit nicht vergehen, kultiviert die Regierung Phantomschmerzen, statt sich um die tatsächlichen Leiden der Bevölkerung zu kümmern, die unter hoher Arbeitslosigkeit und enormen Lebenserhaltungskosten stöhnt. Rettung erhofft sich die Mehrheit der Serben von der EU, die Regierung hat einen Beitritt ja auch zur Priorität erklärt. Verfolgt sie ihren bisherigen Ansatz im Kosovo weiter, wird das Land aber frühestens gemeinsam mit dem Kosovo beitreten können. Und das kann lange dauern. Daran, ob die Regierung bereit ist, ihre Kosovo-Politik zu ändern – niemand verlangt eine sofortige Anerkennung –, wird man sehen, ob ihr das Wohl der Bevölkerung tatsächlich etwas bedeutet.

Bericht Seite 5

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2010)

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