Der Papst und die Wucht der Wahrheit

Benedikt XVI. zeigt in seinem Hirtenbrief zum Kindesmissbrauch Ansätze, ein System, das lange abgedunkelt war, zu durchleuchten. Aber ohne Seitenhieb auf die böse Säkularisierung ging es dann doch nicht.

Die Weihrauchschwenker und Claqueure waren ebenso schnell zur Stelle wie die Polemiker und die Empörten. Kaum hatte der Papst seinen Hirtenbrief über Kindesmissbrauch in Irland veröffentlicht, lobten allerorten Bischöfe die Klarheit und Einfühlsamkeit des Schreibens. Jene aber, die selbst Opfer sexueller Übergriffe durch Priester geworden waren, zeigten sich wenig beeindruckt von den „salbungsvollen Worten“. Sie sind enttäuscht, dass der Pontifex den irischen Schweige-Kardinal Sean Brady im Amt belässt und von einer Verantwortung an der Spitze der katholischen Hierarchie kaum etwas wissen will.

Benedikt XVI. hat diesen Brief nicht von heute auf morgen geschrieben. Umso erstaunlicher ist, dass die Ausführungen auf Irland beschränkt sind. Kardinal Christoph Schönborn meinte zwar freundlicherweise, den Hirtenbrief könne man eins zu eins auch auf Österreich umlegen.

Aber man fragt sich schon, warum der Papst mit keiner Silbe die Missbrauchsfälle in Österreich und Deutschland erwähnt hat, die zuletzt im Dutzend publik geworden sind. Eine zusätzliche Stellungnahme, eine Parenthese, ein Vorwort wären nicht zu viel verlangt gewesen angesichts der Bekenntnislawine, die über die Kirche hereingebrochen ist. Doch Rom ist nicht in der Lage, in einem Tempo und mit einer Entschlossenheit zu reagieren, die der medialen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts halbwegs entspricht. Hätte ein Unternehmen ein ähnliches Krisenmanagement und eine vergleichbare Scheu vor (personellen) Rückholaktionen, wäre es konkursreif.

Bei aller Kritik: Der Papst ist unmissverständlich in der Verurteilung der „schweren Sünde gegen schutzlose“ Kinder. Er mahnt die Täter nicht nur, Reue zu zeigen und die Schuld öffentlich anzuerkennen. Er fordert sie auch auf, sich der Rechtsprechung zu unterwerfen. Die Zeit der Vertuschung ist vorbei. Das ist ein Fortschritt für eine Institution, die jahrzehntelang Mauern des Schweigens um Sexualverbrecher aufgebaut hat. Benedikt XVI. schreibt wörtlich von einer „fehlgeleiteten Sorge um den Ruf der Kirche“. Wie überhaupt in dem Hirtenbrief Ansätze zu erkennen sind, ein System, das zu Monstrositäten geführt hat, nicht länger abzudunkeln, sondern zu durchleuchten.

Die Kirche ist zu dem Schluss gekommen, dass sie besser darauf achten sollte, welche Priester sie auf die Menschheit loslässt. Der Papst selbst spricht von „unangemessenen Verfahren zur Feststellung der Eignung für das Priesteramt und Ordensleben“. Es hat sich also bis zum Vatikan herumgesprochen: Einfach jeden zu nehmen ist auch nicht das beste Mittel gegen den Priesterschwund.


Morsezeichen. So aufrichtig sich die Fehleranalyse ausnimmt, so wahrhaftig die Entschuldigung bei den Missbrauchsopfern klingt („Schande und Reue“), so diffus bleibt der Papst bei der Erforschung der tieferen Ursache. Da ist auf einmal nebulos die Rede von einem „Gesamtkontext“ der Säkularisierung, in dem man „das verstörende Problem des sexuellen Missbrauchs verstehen“ müsse. Viele Priester hätten Denkweisen ohne Bezug aufs Evangelium übernommen, das Zweite Vatikanische Konzil falsch gelesen und (deshalb?) Strafen für kanonisch irreguläre Umstände vermieden. Wie bitte? Am Ende soll dann doch die diabolische Säkularisierung an allem schuld sein, auch am Kindesmissbrauch? Wenn er es so meint, hätte der Papst es deutlicher sagen sollen, anstatt verschämt intellektuelle Morsezeichen an bestimmte Gruppen auszusenden.

Tröstlich bleibt nach all den aufwühlenden Wochen, in denen eine gequälte Seele nach der anderen das Drama ihrer oft 40 Jahre zurückliegenden Vergewaltigung öffentlich erzählte, vor allem eines: Die Wahrheit lässt sich auf Dauer nicht einsperren, weder in Familienverliesen noch hinter kirchlichen Mauern. Irgendwann bricht sie sich Bahn, mit der zornigen Wucht einer Abrissbirne. Auch nach diesem Hirtenbrief ist nicht absehbar, wie zerstörerisch die Wahrheit des massenhaften Kindesmissbrauchs für die Kirche noch sein wird.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2010)

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