Am Konflikt um die Grenze zwischen beiden Teilen Irlands kristallisiert sich das Problem des Brexit und einer brachialen Interessenpolitik heraus.
Sie pfiffen. Theresa May hat gerade im Unterhaus den Backstop erklärt, jenen Teil des britischen EU-Austrittsabkommens, der die politische Sprengkraft besitzt, einen geordneten Brexit zu verhindern. Einige Abgeordneten standen daraufhin auf, machten ihrem Unmut lautstark Luft.
Welches Wort hat sie so aufgewühlt? Es war nicht der von ihnen abgelehnte Backstop, der vorsieht, dass Großbritannien so lang in einer Zollunion mit der EU verbleiben muss, bis ein neues Handelsabkommen samt Garantie für eine offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik vereinbart ist. Es war das Wort „souverän“. Irland, so hat Theresa May nämlich betont, sei ein souveräner Staat, der von London als verbleibender Teil der EU respektiert werden müsse.
Die Pfiffe lassen erahnen, dass sich diese Abgeordneten nicht nur das Empire zurückwünschen, sondern auch die Eigenständigkeit Irlands infrage stellen. Für sie zählt die Grüne Insel noch immer zum natürlichen Einflussgebiet des britischen Königreichs, obwohl ihr größerer Teil seit knapp hundert Jahren unabhängig ist. In der Irland-Frage kristallisiert sich also nicht nur das technische Problem des britischen EU-Austritts heraus. Mit ihr wird auch die emotionale und politische Problematik der britischen Debatte offenbar.
Von einer unverantwortlichen Überheblichkeit getrieben, schwebt den Brexit-Hardlinern eine Zukunft vor, in der ihr Land ohne Rücksichtnahme auf andere weltweit agieren kann. Diese etwas naive Vorstellung schließt bilaterale Handelsverträge ein, die London mit allen wichtigen Drittstaaten schließt und die nur noch einseitig Milch und Honig fließen lassen. So eine öffentlich verbreitete Illusion ist mittlerweile kein Einzelphänomen. Von Donald Trump bis Viktor Orbán sind zahlreiche politische Führer davon überzeugt, dass nationale Interessen mit Brachialgewalt gegen alle anderen durchgesetzt werden müssen. Sie glauben an ein ökonomisches Nullsummenspiel, in dem sie nur dann gewinnen, wenn andere verlieren. Sie verabschieden sich von multilateralen Verträgen, die allen Seiten Vorteile gebracht haben. In ihrer Kalkulation negieren sie zum einen, dass viele Herausforderungen nur noch grenzüberschreitend in einer Staatengemeinschaft gelöst werden können – vom Klimaschutz über den fairen Handel bis hin zur Sicherheit. Sie blenden zum anderen auch die Gefahr aus, dass mit dieser Interessenpolitik lediglich neue Konfliktherde geschaffen werden.
Wird das Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998, das nach 3600 Todesopfern den Bürgerkrieg in Nordirland beendet hat, durch die Sturheit der Brexit-Hardliner und der in Folge notwendig werdenden Grenzkontrollen von britischer Seite aufgehoben, sind neue blutige Auseinandersetzungen durchaus wahrscheinlich. Beispielhaft für ganz Europa würde hier erneut aufgezeigt, wie kurz der Weg von einer rein nationalistischen Politik zu neuen blutigen Differenzen ist.
Großbritannien soll, wenn es das wirklich möchte, aus der EU austreten. Niemand hat das Recht, es daran zu hindern. Aber es muss vonseiten der 27 verbleibenden EU-Mitglieder sichergestellt werden, dass dieser Brexit ohne neue zwischenstaatliche Konflikte und ohne das Provozieren eines neuen Bürgerkriegs abgewickelt wird.
Hätten die pfeifenden Abgeordneten im Unterhaus ein wenig historisches Gespür, würden sie sich darauf besinnen, dass ein solcher Konflikt dazu führen könnte, dass Großbritannien letztlich auch noch den Norden Irlands verlieren könnte. Denn wer glaubt, dass sich äußere Konfliktlinien nicht im Inneren fortsetzen, hat einen Teil der europäischen Geschichte nicht verstanden.
„Wir sind im Moment alle Iren“, sagte der belgische Außenminister, Didier Reynders, vergangene Woche bei einem Treffen mit Amtskollegen in Brüssel. Seine Äußerung war nicht bloß als Solidaritätsbekundung gemeint. Es liegt vielmehr in der Verantwortung aller restlichen EU-Regierungen, London, Dublin und Belfast von den absehbaren Gefahren eines ungeordneten Brexit zu bewahren.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2019)