Der Aufstieg des netten amerikanischen Riesen

Dilma Rousseff übernahm als Brasiliens erste Präsidentin ein Land auf der Erfolgswelle. Schon jetzt ist es eine wirtschaftliche Supermacht – aber es gibt Fußangeln.

Stefan Zweig, der österreichische Schriftsteller, der sich 1942 im Exil in Brasilien das Leben genommen hat, hat ihn geprägt, den Satz „Brasilien. Ein Land der Zukunft“. Er war Titel eines Buches, der Zweig in der exotischen, schwül-romantischen Atmosphäre Brasiliens, das so abseits des damaligen Weltenbrandes lag und damit nichts zu tun haben schien, wohl zugeflogen war. „Heller scheint dem Gast hier das Leben mit der helleren Sonne“, schrieb Zweig, und ja, aus diesem wunderschönen Land mit seiner entspannten Atmosphäre könne einmal etwas Großes werden.

Wie bei einer Zukunftsvision nicht unerwartet, hat es dann doch länger gedauert, bis sie sich in der Realität eingestellt hat: Über Jahrzehnte dümpelte Brasilien dahin, gebeutelt von Wirtschaftskrisen und Militärregimes. Doch als Dilma Rousseff, Ex-Energieministerin und Stabschefin des abgetretenen linken Staatschefs Lula da Silva, nun zu Jahresbeginn als erste Frau in den Präsidentenpalast eingezogen ist, da hat sie tatsächlich nicht nur ein Land übernommen, das dabei ist, ein Riese auf der Weltbühne zu werden, sondern das bereits einer ist.

Seit Jahren surft die 190-Millionen-Nation, die flächenmäßig das Gros Südamerikas abdeckt, auf einer für europäische und US-Verhältnisse märchenhaften sozioökonomischen Erfolgswelle. 2010 lag etwa das Wirtschaftswachstum bei rund neun Prozent, die Einkommen steigen, Konzerne wie der Ölmulti Petrobras oder der Flugzeugbauer Embraer werden global immer mächtiger.

Und dank riesiger Sozialprogramme, etwa der Koppelung von Familienbeihilfe an den Schulbesuch von Kindern, konnten im vorigen Jahrzehnt mehr als 20 Millionen Menschen aus der Armut zumindest ins untere Stockwerk der Mittelschicht geholt werden. Man verglich die Programme mit dem „New Deal“ in den USA der 1930er-Jahre, und Lula darob mit Franklin D. Roosevelt. Freilich sei gesagt, dass nicht Lula die Basis für den Brasil-Boom schuf, sondern sein Vorgänger, der konservativ-zentristische Fernando Cardoso. Viele hängten ihm das Etikett „spröde“ an, aber es war er, der in den 1990ern den Haushalt sanierte, die Hyperinflation stoppte und die Konzepte für die Sozialprogramme schuf, die Lula wie Orden an die Brust geheftet werden.

Rousseff kann nicht darauf vertrauen, dass der Aufschwung anhält, er ist von strukturellen Problemen durchzogen. So gründet er wesentlich auf dem Rohstoffhunger Chinas, das Brasilien jede Tonne Öl, Eisen oder Kupfer entreißt. Dagegen hinken Innovation und Technologie nach, 2009 lag das Verhältnis der Exporte von Rohstoffen zu Fertigwaren auf dem höchsten Stand seit 1978.

Der Wirtschaftsaufschwung wurde auch durch steigende Staatsausgaben angetrieben, und bei Infrastruktur, Bildung und Abschlankung der Verwaltung ist viel zu tun. Trotzdem: Welches Land hätte nicht gern Schlagzeilen wie „Brasilien gehen die Arbeitskräfte aus“; die Arbeitslosigkeit ist nämlich so gesunken (auf 5,7Prozent), dass die Wirtschaft zu wenig qualifizierte Kräfte findet.

Auch außenpolitisch trägt der Riese, der bald eine der Top-5-Wirtschaftsmächte ist, sein Haupt aufrecht. Das zeigte sich im Gegenkurs zu den USA beim Streit um Irans Atomprogramm. Die Lust auf einen Dauersitz im UN-Sicherheitsrat besteht weiter, auch militärisch wächst man: Zuletzt stieg die Stärke der Truppen von 290.000 auf 360.000 Mann, es gibt ein Flottenbauprogramm samt Kauf weiterer U-Boote, Fregatten und Flugzeugträger und dem Bau eines Atom-U-Bootes. Frankreich liefert „Rafale“-Kampfjets, aus Deutschland sollen „Leopard II“-Panzer kommen.

Mancher fragt sich, wofür Brasilien, das an sich keine Feinde und Konfliktzonen hat, solche Waffen braucht. Allerdings ist das Militär mit Infanterie, Tanks und Helikoptern verstärkt im Kampf gegen Drogenbanden aktiv, und zu einer Macht, die ernst genommen werden will, gehören anständige Streitkräfte mit Fähigkeit zur Projektion militärischer Macht – das weiß auch Brasilien. Freilich wirkt das schwül-romantische Land mit seinen portugiesischen Wurzeln sympathischer als die USA, die bröckelnde Hypermacht, die krampfhaft oben bleiben will, oder das schwer berechenbare, maskenhafte China. Und so hat Brasilien die Chance, zum netten amerikanischen Riesen zu werden.

E-Mails an: wolfgang.greber@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2011)

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