Gerüchte vom ökonomischen Ableben sind oft verfrüht

Noch vor wenigen Jahren galt Deutschland als Europas kranker Mann. Das sollte jenen zu denken geben, die heute Frankreich als hoffnungslosen Fall sehen wollen.

Es war im Frühjahr 2005. In den USA kletterten die Immobilienpreise in immer lichtere Höhen, in China kam der Aufschwung so richtig in die Gänge, und in London bereitete sich die Regierung von Tony Blair auf die Übernahme des EU-Vorsitzes vor. Viel Lob für die Briten gab es im Vorfeld für das geschmackvolle Logo ihrer Präsidentschaft: ein Schwarm Wildenten auf dem Flug von West nach Ost. Wie der damalige britische Botschafter in Wien jovial erläuterte, war dieser Schwarm als Symbol für die Union gedacht – mit seinem Land als Leitente. Besonders viele Lacher erntete der Diplomat, als er nach Deutschlands Platz in dem Gefüge gefragt wurde. „Deutschland? Das ist der kleine Vogel hinten links.“

Es fällt einem schwer zu glauben, dass Deutschland noch vor wenigen Jahren in der Position war, in der sich heute Frankreich befindet: abgestempelt als kranker Mann Europas. Im Jurassic Park des Rheinischen Kapitalismus gefangen, strukturell verkrustet, zu Reformen unfähig und auf die Herstellung von so vorgestrigen Dingen wie Industriewerkzeugen spezialisiert – so lauteten damals die Punkte der (nicht nur britischen) Anklage. In der glorreichen Zukunft, wie man sie sich Mitte der Nullerjahre ausgemalt hatte, galten nur die Spielregeln der finanzwirtschaftlichen Quantenphysik.

Doch spätestens mit dem Ausbruch der europäischen Schuldenkrise hat sich das hässliche Entlein von 2005 in einen muskulösen Schwan verwandelt. Das Festhalten an der altmodischen Ingenieurskunst hat sich ebenso bezahlt gemacht wie die unter dem spröden Begriff Hartz IV subsumierten Arbeitsmarktreformen des viel geschmähten Gerhard Schröder. Der mit Abstand wichtigste Grund für Deutschlands Comeback hat aber nur peripher mit der Politik zu tun: Anders als im restlichen Euroland sind die deutschen Lohnstückkosten im vergangenen Jahrzehnt konstant geblieben.

Die Genügsamkeit der Gewerkschaften hat wohl zu einem gewissen Teil mit der von oben angeordneten Redimensionierung der sozialen Hängematte zu tun. Insgesamt fällt aber auf, dass in Deutschland Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Politiker nach wie vor in der Lage sind, wie Erwachsene miteinander umzugehen und realistisch zu planen – anders als etwa hierzulande, wo ohne eine ordentliche Tracht Prügel nichts weiterzugehen scheint. Von der südlichen Peripherie der Union ganz zu schweigen.

Die wenig ruhmreiche Rolle, die Deutschland Mitte des vergangenen Jahrzehnts spielen musste, fällt nun Frankreich zu. Der Verlust der Spitzenbonität vergangene Woche wird von (teils schadenfrohen) Beobachtern zum Schicksalsmoment hochstilisiert, an dem Paris endgültig zum Beiwagerl des deutschen Boliden degradiert wurde. Dabei lehrt das deutsche Beispiel, dass beim Verfassen von volkswirtschaftlichen Nachrufen Schadenfreude und Hast selten angebracht sind.

Gewiss, das Land hat ein strukturelles Budgetdefizit, zu viele Beamte, die aberwitzige 35-Stunden-Woche und einen Hang zu großen Gesten und kleinen Taten. Nichtsdestoweniger sind die Meldungen vom Ableben Frankreichs stark übertrieben. Die unternehmensfeindliche verkürzte Arbeitswoche wurde zwar nicht abgeschafft, aber mit Ausnahmebestimmungen durchlöchert; die industrielle Basis ist nach wie vor robust, man denke etwa an Konzerne wie Total, Sanofi oder Renault; und die von Nicolas Sarkozy durchgesetzte Anhebung des Pensionsalters belegt, dass Frankreich sehr wohl reformierbar ist.

Wenn alles gut geht, dann schafft es Frankreich, sich schön langsam aus dem Sumpf zu ziehen. Bis es so weit ist, bleibt das europäische Gravitationszentrum allerdings fest in Berlin verankert. Das muss keine schlechte Sache sein. Abseits der tagesaktuellen Suche nach dem Ausweg aus der Schuldenkrise ist eine Rückbesinnung auf die erwachsenen Tugenden, wie sie in Deutschland kultiviert werden, dringend vonnöten.

Und noch einen positiven Nebenaspekt hat die Angelegenheit: In Zeiten wie diesen kann eine Dosis Understatement nicht schaden. Auch da ist Deutschland ein Vorreiter, wie sein Logo der EU-Präsidentschaft 2007 belegt – keine lustigen Tiere, sondern nur: die Internetadresse www.EU2007.de. Nüchterner geht's nimmer.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2012)

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