Deutschland hat einen respektablen parteilosen Präsidenten. Das ist gut so, aber ironischerweise Ergebnis eines höchst parteitaktischen Verhaltens aller Beteiligten.
Nach zwei Fehlversuchen erhält Deutschland mit dem parteilosen Joachim Gauck einen Bundespräsidenten, dem zugetraut werden kann, das repräsentative Amt mit moralischer Größe auszufüllen. Umso zwergenhafter wirkt der seltsam beschränkte Reflex von Oppositionspolitikern wie Andrea Nahles (SPD) und Cem Özdemir (Grünen). Anstatt sich einfach darüber zu freuen, dass ihr Kandidat nun auch von der Regierung unterstützt wird, oder, was offenbar zu viel verlangt wäre, CDU-Bundeskanzlerin Merkel Respekt für ihren Meinungswechsel zu zollen, versuchen sie, Kleingeld aus dem Erfolg zu schlagen.
Es sei der „Tag einer großen Niederlage für Frau Merkel“, triumphierte SPD-Generalsekretärin Nahles. Und der Chef der Grünen konstatierte am Tag nach der Fünf-Parteien-Einigung auf Gauck, dass die schwarz-gelbe Regierungskoalition nicht mehr handlungsfähig sei.
Stimmt schon: Das zwischen Merkel und Gauck war keine Liebe auf den ersten Blick. Die Kanzlerin schien es dem Ex-DDR-Bürgerrechtler übel zu nehmen, dass er sich bei der Präsidentenwahl 2010 gegen Christian Wulff auf den Schild hatte heben lassen. Sie wollte ihn auch diesmal nicht ins Schloss Bellevue hieven. Nach Wulffs Rücktritt trug Merkel dem Verfassungsrichter Andreas Voßkuhle das höchste Staatsamt an. Damit hätte sie den Spieß umgedreht. So wie Gauck als bürgerlich, gilt Voßkuhle als SPD-nah. Rot und Grün hätten ihn schwer ablehnen können. Doch der Richter winkte ab.
Nein, aus Überzeugung hat die CDU-Chefin den 72-jährigen Pastor aus Rostock nicht nominiert. Auf ihn eingeschwenkt ist sie erst, nachdem sich ihr FDP-Koalitionspartner auf ihn versteift hat. Wäre sie auch nachher noch bei ihrem Nein zu Gauck geblieben, hätte sie nicht nur eine Abstimmungsblamage in der Bundesversammlung, sondern einen Koalitionsbruch riskiert.
Es war klug, dass Merkel nachgab. Noch klüger wäre es gewesen, sie hätte nach Wulffs Abgang gleich auf Gauck gesetzt. Denn, dass schnell nach dem bewunderten Redner aus Ostdeutschland gerufen wird, war erwartbar. Mit jedem Tag wäre Merkel noch stärker unter Druck geraten, ihn zu nehmen. Einen anderen als ihn hätte Merkel nur im Blitzverfahren durchsetzen können. Das versuchte sie mit Voßkuhle, scheiterte aber.
Als Verliererin steht die Kanzlerin dennoch nicht da, auch wenn sich die Opposition noch so bemüht, ihr diese Rolle zuzuweisen. Denn Gauck passt mit seinem bürgerlichen Hintergrund und seinem Freiheitspathos bestens zu ihrer Regierung. Größere Probleme mit ihm könnten am Ende jene Parteien haben, die ihn ursprünglich als Präsidentschaftsbewerber nominiert hatten. Schon jüngst schlug Gauck Töne an, die SPD und Grünen wenig gefielen.
So bezeichnete er den umstrittenen Beitrag von Thilo Sarrazin zur Integrationsdebatte („Deutschland schafft sich ab“) als mutig. Und als ehemaliger Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde fand er auch nichts dabei, dass der Verfassungsschutz Politiker der Linkspartei unter Beobachtung hält. Der überzeugte Antikommunist hält sicher auch wenig von einer etwaigen rot-rot-grünen Regierung unter Beteiligung der SED-Nachfolgepartei. Das könnte die Möglichkeiten der SPD einschränken, nicht der CDU.
Die Ironie ist auch aus einem anderen Grund unübersehbar. Das Glück eines parteilosen Staatsoberhaupts fällt dem Land als Ergebnis von Parteitaktiken zu, die sich als überparteilich kaschieren. SPD und Grüne setzten vor allem deshalb auf Gauck, um Merkel zu schaden. Und Merkel verkauft ihr Einlenken nun so, als wäre sie von Anfang an über allen Lagern geschwebt.
Doch Ende gut, fast alles gut: Deutschland hat einen respektablen Präsidenten, von dem substanzielle Redebeiträge zum 25.Jahrestag des Mauerfalls etc. zu erhoffen sind. Zufall oder nicht: Deutschland wird künftig von zwei Ex-DDR-Bürgern mit Wurzeln in der evangelischen Kirche angeführt, von Merkel und Gauck. Das ist nicht nur ein schönes Symbol der Wiedervereinigung. Es wirft auch die Frage auf, ob das „annus mirabilis“ 1989 nicht zuletzt deswegen ein Segen war, weil Kraft und Energie zur personellen und moralischen Erneuerung des erschlafften Westens aus dem Osten kommen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2012)