Das Syrien-Szenario: Jemen, Libyen, Irak oder Kosovo?

Karl Marx hatte recht, jedoch nicht ganz: Die Geschichte wiederholt sich. Aber diesmal nicht als Farce, sondern als noch größere Tragödie.

Das jemenitische Szenario – das war bisher die Lieblingslösung der Staatengemeinschaft für das lästige Syrien-Problem. Das jemenitische Szenario? Das ist eine kontrollierte Machtübergabe an einen politisch halbwegs erträglichen Vertreter des bisherigen Machtapparats. Ali Abdullah Saleh, Jemens Präsident von 1990 bis 2012, war nach der blutigen Niederschlagung des Arabischen Frühlings in seinem Land als Präsident untragbar geworden und musste weichen. Ihm wurde diplomatische Immunität zugesagt, er flog zur medizinischen Behandlung in die USA, und sein bisheriger Vize Abd Rabbuh Mansur al-Hadi übernahm die Macht.

Für Syrien hätte das bedeutet: Der frühere Außenminister Farouk al-Sharaa wird die neue Figur an der Staatsspitze, die Familie von Präsident Bashar al-Assad findet in Doha, Katar, Asyl. Der Machtapparat in Damaskus bleibt vorerst intakt, ein langsamer Übergang zu einem offeneren politischen System stellt sicher, dass die staatlichen Institutionen stabil bleiben und das Land nicht im Chaos versinkt.

Denn das Irak-Trauma sitzt tief, der Vorschlag – ursprünglich bereits im Jänner von der Arabischen Liga ventiliert – findet die Zustimmung Russlands: In Moskau wurde die „Yemenski Variant“ angeregt diskutiert. Die Frage, ob der syrische Präsident Bashar al-Assad nach 14Monaten kriegerischer Auseinandersetzungen und 12.000 Toten im Asyl vor dem Zugriff des Internationalen Strafgerichtshofs geschützt werden soll, stellt die Internationale Staatengemeinschaft vor ein schwieriges Dilemma. Die Jemen-Lösung scheiterte bisher ohnehin daran, dass Assad nicht bereit ist mitzuspielen.

Die amerikanische US-Botschafterin Susan Rice hatte am Mittwoch eine andere Variante ins Spiel gebracht: Bei einer weiteren Eskalation müssten sich die Staaten fragen, ob sie bereit seien, „außerhalb der Autorität des Sicherheitsrats tätig zu werden“. Das wäre dann die Kosovo-Variante. 1999 entschloss sich die Nato, Russland – das damals jede Lösung blockierte – zu ignorieren und den serbischen Machthaber Slobodan Milošević im Kosovo-Konflikt zum Einlenken zu zwingen. Die Mission gilt als Erfolg, und der Kosovo war wohl auch so etwas wie eine Blaupause für die ebenfalls erfolgreiche Nato-Militärintervention in Libyen. In Libyen wie im Kosovo verließ die Militärallianz sich ausschließlich auf die Unterstützung der örtlichen Rebellen und Luftoperationen. Für Russlands Diplomaten ist „Kosovo“ freilich bis heute ein Reizwort.

Das Massaker von al-Houla, bei dem am vergangenen Freitag und Samstag 108 Menschen, darunter 49 Kinder und 34 Frauen von Shabiha-Milizen getötet wurden, deutet auf ein Irak-Szenario. Bewohner von al-Houla berichten, dass bewaffnete alawitische Loyalisten des Assad-Clans für den größten Teil der Morde verantwortlich waren. Die Alawiten – eine Abspaltung der Schiiten – sind zwar eine Minderheit im mehrheitlich sunnitischen Syrien, haben aber seit Jahrzehnten die meisten Machtpositionen in Staat und Armee inne. Die Aufständischen rekrutieren sich aus der wütenden, frustrierten sunnitischen Mehrheit. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass der Konflikt in Syrien auf einen offenen Bürgerkrieg zwischen Alawiten und Christen auf der einen und Sunniten auf der anderen Seite zusteuert. Ein Übergreifen eines Bürgerkriegs in Syrien auf den ethno-religiös zerrissenen Libanon wäre in diesem Fall höchst wahrscheinlich.

Bleibt also ein ruandisches Szenario– nichts tun?

Der Friedensnobelpreisträger und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel hatte US-Präsident Bill Clinton bei seinem Besuch im Holocaust-Museum im Jahr 1993 auf das Morden in Bosnien angesprochen und gefragt: „Was haben wir aus der Geschichte gelernt?“ US-Präsident Barack Obama war also vorgewarnt. Bei seinem Besuch im Holocaust-Museum in Los Angeles im April erklärte er, die Verhinderung von Massenmord und Genozid sei ein Kerninteresse der USA. „Deshalb haben wir Flugzeuge gegen Muammar al-Gaddafi geschickt“, erinnerte der US-Präsident. Elie Wiesels Konter: „Warum ist Assad noch an der Macht?“ USA-Alleingang?

E-Mails an: thomas.seifert@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2012)

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