Der Kindle weiß, was seine Leser wollen

E-Books machen das Leseverhalten transparent. Der digitale Buchhandel beginnt, sein Angebot entsprechend zuzuschneiden.

Sieben Stunden braucht der Durchschnittsleser für den letzten Band von Suzanne Collins' „Tribute von Panem“-Trilogie auf dem E-Reader von Kobo. Das zweite Buch dieser Trilogie enthält den Satz, den die meisten Leser auf ihrem Kindle markiert haben: „Because sometimes things happen to people and they're not equipped to deal with them.“

Im digitalen Buchhandel passieren Dinge, bei denen noch unklar ist, wie damit umgegangen wird: „Der intime, zurückgezogene Akt des Lesens ist durch das elektronische Buch zu etwas Messbarem und Quasi-öffentlichem geworden“, heißt es in einer Analyse im „Wall Street Journal“ über das Datensammeln zum digitalen Leseverhalten. „Beim gedruckten Buch weiß keiner, welche Seiten Eselsohren haben“, sagt David Levithan von Scholastic, dem US-Verlag von „Harry Potter“, nun könne man „in den Geist des Lesers blicken“. Zur Abenteuerbuchserie „The 39 Clues“ hat Scholastic Onlinespiele samt Leserforen lanciert, spätere Bände dem Feedback angepasst.

Beim Buchhändler Barnes & Noble, dessen Nook-Lesegerät über ein Viertel des US-Markts für E-Books bedient, sei man in „der ersten Phase der Tiefenanalyse“, sagt Vizepräsident Jim Hilt: Es gebe „mehr Daten, als wir auswerten können“. Erste Ergebnisse: Belletristik liest man am Stück, Sachbücher nur ab und an – und nicht unbedingt zu Ende, vor allem, wenn sie lang sind. Also führte Barnes & Noble sogenannte „Nook Snaps“ ein: kurze Abhandlungen zu Themen von Gewichtsverlust bis zur „Occupy“-Bewegung. Stellen, an denen sich der Abbruch der Lektüre häuft, könnte man in digitalen Editionen aufmotzen – durch Einfügen von Videos, Internet-Links oder Multimedia-Angeboten. „Wo steigen die Leser bei bestimmten Büchern aus, und was können wir mit Verlegern tun, um es zu verhindern?“, erklärt Hilt die Strategie: „Wenn wir Autoren helfen können, noch bessere Bücher zu machen, profitieren alle davon.“

Der Justizthriller-Autor Scott Turow („Aus Mangel an Beweisen“) begrüßt das enthusiastisch: Ihn frustrierte, dass seine langjährigen Verleger noch immer keine Ahnung hätten, wer seine Bücher kauft. Und: „Wenn man herausfinden kann, dass ein Buch zu lang ist und man stärker kürzen sollte, würde ich das gern wissen wollen.“ Jonathan Galassi vom Verlag Farrar, Straus & Giroux widerspricht dagegen dem Quotendenken: „Ein Buch kann exzentrisch sein und die Länge haben, die es braucht. Damit sollte der Leser nichts zu tun haben. Wir werden ,Krieg und Frieden‘ nicht kürzen, bloß weil es jemand nicht zu Ende gelesen hat.“

Bei Amazon hält man sich bedeckt, was die Auswertung der Daten angeht, aber eine Konzernsprecherin kommentierte die Markierungsfunktion: „Wir betrachten es als die kollektive Intelligenz aller Kindle-Reader.“ Laut dieser ist der Eröffnungssatz von Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ die zweitpopulärste Zeile nach jener von Collins. Neugründungen wie der Digitalverlag Coliloquy verschreiben sich hingegen schon ganz dem Zuschneiden der Produkte auf die Leserdaten: In „Great Escapes“, einer Serie erotischer Romanzen, kann das Aussehen des Helden und die Intensität der Liebesszenen individuellen Wünschen angepasst werden. Laut letztem Stand ist das Idealbild ein kräftiger, hochgewachsener Typ mit schwarzem Haar, grünen Augen und einer „moderat, aber nicht allzu behaarten“ Brust.

E-Mails an: christoph.huber@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2012)

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