Massenmord in Newtown: Ein Argument für Pflichtversicherung?

Der Amokläufer Adam Lanza habe unter dem Asperger-Syndrom gelitten, heißt es. Nun wird debattiert, ob psychiatrische Behandlung das Verbrechen hätte verhindern können.

Blind für die Emotionen anderer Menschen“: So titelte die Online-Ausgabe des „Spiegels“ einen Artikel zum Amoklauf von Newtown. Darin hieß es, „mehrere Medien“ hätten berichtet, dass Massenmörder Adam Lanza unter dem Asperger-Syndrom gelitten haben soll, einer milden Form des Autismus. Sein Bruder habe zwar nur zu Protokoll gegeben, dass Lanza eine „Persönlichkeitsstörung“ hatte; doch Zeugenaussagen würden zur Diagnose Asperger-Syndrom passen. Laut anderen Berichten soll Lanza auffallend schmerzunempfindlich gewesen sein.

Der „Spiegel“-Artikel führte zu Protesten. „Einige Leser haben in diesem Text offenbar eine Gleichsetzung von Autisten und Mördern erkannt“, hieß es in einer „Anmerkung der Redaktion“: „Eine solche völlige Gleichsetzung ist selbstverständlich nicht gemeint. Der Text weist ausdrücklich darauf hin, dass selbst eine Störung keine Erklärung für eine grausame Tat wie in Newtown sein kann.“

Tatsächlich tun sich Menschen mit Asperger-Syndrom in der Kommunikation und mit der Empathie schwer. Eine besondere Neigung zur Gewalt ist nicht typisch für sie.

Das Thema impliziert heikle Fragen. Kann man Verbrechen kausal aus der psychischen Struktur des Täters ableiten? Wie zuverlässig lässt sich diese diagnostizieren? Und: Kann man Verbrechen also durch psychiatrische Betreuung verhindern?

In den USA betonen dieser Tage vor allem konservative Politiker und Medien den Zusammenhang zwischen Geisteskrankheiten und Gewalttaten; Liberale argwöhnen, dass damit von der Debatte über strengere Waffengesetze abgelenkt werden soll. Die „New York Times“ etwa diagnostiziert einen „misguided focus on mental illness“: Geisteskranke trügen nur wenig zur Gewaltbilanz bei. Sie zitiert einen Professor für Psychiatrie an der Duke University: „Können wir Gewalttaten zuverlässig vorhersagen? ,Nein‘ ist die kurze Antwort.“

Auch die deutsche „Welt“ brachte am Dienstag einen Essay, in dem Hannes Stein erklärt: „Was die Vereinigten Staaten jetzt brauchen, sind nicht strengere Waffengesetze, sondern eine bessere Behandlung ihrer psychisch Kranken.“ Stein argumentiert, dass auch in der Schweiz, Israel und Tschechien die Waffengesetze lax seien. „Warum drehen in diesen Ländern dennoch nicht alle paar Monate irgendwelche Verrückten durch und baden im Blut von kleinen Kindern oder Kinobesuchern?“

Die Argumentation mag der von republikanischen US-Politikern ähneln, doch Steins Schluss ist anders: „Es gibt in Amerika keine allgemeine Krankenversicherung. Es gibt darum auch nicht die soziale Kontrolle, die mit einer allgemeinen Krankenversicherung einhergeht. In Washington, New York und Los Angeles schlurfen Psychotiker als Obdachlose durch die Straßen – in Zürich, Genf und Tel Aviv werden sie in Krankenhäusern behandelt.“ Aus dem Grauen von Newtown die Notwendigkeit einer allgemeinen Krankenversicherung abzuleiten – das passt Republikanern wohl eher nicht in ihre Politik.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2012)

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