Zu katholisch? Die Papageien von Wikipedia

"Beurteilt mich nach meinen Ideen!", fordert eine berühmte Medizinethikerin - sie spricht für viele.

Margaret Somerville ist nicht irgendwer. Die 71-jährige Medizinethikerin gehört zu den bekanntesten kanadischen Intellektuellen. Sie ist Mitglied der Royal Society of Canada, war erste Preisträgerin des Avicenna-Preises der Unesco für Wissenschaftsethik und hielt 2006 die in Kanada berühmten „Massey Lectures“ ab, öffentliche, im Radio übertragene Vorlesungen, bei denen schon Noam Chomsky, Margaret Atwood, Martin Luther King, Willy Brandt oder Doris Lessing zu hören waren.

Und wer Aufsätze von ihr liest (im Internet gibt es viele), findet bestätigt, was sie über sich schreibt: „Ich habe mich über 30 Jahre lang in der Öffentlichkeit geäußert und bei aktuellen ethischen und rechtlichen Analysen der Themen, mit denen ich mich beschäftige, nie von einem religiösen Standpunkt aus argumentiert.“ Warum also, fragt sie sich nun, werde sie immer öfter mit dem Etikett „römisch-katholisch“ behängt und diskreditiert? In dem Artikel mit dem Titel „Judge me by my ideas, not my religion“ schreibt sie, dass sie als mögliche Gastrednerin bei Veranstaltungen immer öfter von vornherein ausgeschlossen werde, weil sie nur ein „Sprachrohr der römisch-katholischen Kirche“ sei.

Die einfache Erklärung dafür heißt Wikipedia. Eine Zeit lang (derzeit wieder nicht) erweckte der englischsprachige Eintrag zu Margaret Somerville im Internet-Lexikon nämlich den Eindruck, dass die Wissenschaftlerin wie ein Papagei die Positionen des Vatikans nachplappere. Warum? Weil sie römisch-katholisch ist, und weil sie sich zu Themen wie Euthanasie oder Homosexuellen-Ehe kritisch geäußert hat.

Allerdings mit Argumenten, die auch Nichtreligiöse ernst nehmen können bzw. sollten (selbst wenn sie sie nicht teilen). Aber die Vorstellung, dass gläubige Menschen von vornherein in gesellschaftlichen Debatten nicht ernst zu nehmen, weil „befangen“ seien, ist ein immer beliebteres Ad-hominem-Argument.

In Amerika fordern wissenschaftliche Medizinzeitschriften auch die Angabe der religiösen Zugehörigkeit, um „Interessenkonflikte“ auszuschließen. Ist das nicht ein Armutszeugnis für die Urteilskraft von Herausgebern und Lesern? Wo, wenn nicht in der Wissenschaft, sollte man fähig sein, Geschriebenes nach der Qualität der Argumentation und Beweisführung zu beurteilen?

Psychologen können leicht zeigen, dass unser aller Denken „deformiert“ durch Vorlieben und Vorurteile ist. Wenn man also nicht gläubig sein darf, um ernst genommen zu werden, wird es am Ende keine Debatte mehr geben – weil keiner mehr übrig ist, der sie führen darf.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2013)

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