Ist Voltaire eigentlich für oder gegen „Charlie“?

Die „Abhandlung über die Toleranz“ verteidigt auf den ersten Blick die religiösen Gefühle. Ein Irrtum.

Was würde Voltaire wohl über die „Charlie Hebdo“-Satiren sagen? Offenbar suchen jetzt viele Menschen Rat und Rezept beim großen Aufklärer; denn seine „Abhandlung über die Toleranz“ gehört auf der französischen Amazon-Seite derzeit zu den meistverkauften Büchern.

Nur, wofür, für wen ist der Philosoph eigentlich? Auf den ersten Blick kann man herauslesen, was man will: „Gott, du hast uns kein Herz gegeben, einander zu hassen“, schreibt der Deist Voltaire. Toleranz ist für ihn friedliche Duldung, das Zusammenleben soll nicht durch Hass gestört werden. Jeder solle glauben, was er wolle, solang er nicht die Ordnung störe. Seine Maxime: „Tue nichts, was du selbst nicht erleiden willst.“

Mit dem aggressiven Spott der „Charlie“-Zeichnungen scheint das nicht kompatibel. Ist Voltaire am Ende ein Gewährsmann für Muslime, die in ihren religiösen Gefühlen nicht beleidigt werden wollen? Man kann es so lesen – was zeigt, wie schnell man bei alten Texten in die Irre gehen oder sie missbrauchen kann, wenn man sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang reißt.

Voltaire schrieb seine „Abhandlung über die Toleranz“ 1763 als Plädoyer für eine Urteilsrevision und Rehabilitierung: Der protestantische Stoffhändler Jean Calas war fälschlich wegen Ermordung seines Sohns angeklagt und hingerichtet worden, er hätte seinen Sohn daran hindern wollen, Katholik zu werden, hieß es. Voltaire schrieb vorsichtig und strategisch klug mit Rücksicht auf die staatlichen und kirchlichen Adressaten. Und er argumentierte vor dem Hintergrund jahrhundertelanger Religionskriege und Gemetzel zwischen Katholiken und Hugenotten. Warum hätte Voltaire in seiner Schrift das Recht auf die Verspottung fremder Glaubensinhalte verteidigen sollen? Es ging ja gerade erst darum, einer übermächtigen katholischen Kirche die Duldung „abweichenden“ Glaubens abzuringen.

„Der Atheismus und der religiöse Fanatismus sind zwei Ungeheuer, die die Gesellschaft verschlingen und zerreißen können“, schrieb Voltaire acht Jahre später. Auch das könnte man, aus dem Kontext gerissen, gegen „Charlie Hebdo“ zitieren. Aber Voltaire betonte auch den Unterschied zwischen beiden: Beim Atheisten stutze die Vernunft seine Krallen, der Fanatiker sei im fortwährenden Wahn. Außerdem ist es sehr fraglich, ob Voltaire auch heute noch einen Gott für nötig halten würde, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Sicher ist, dass er konkrete Formen von Religion als „Aberglaube“ ungehemmt verspottet und die Machtausübung durch Religion überall heftig bekämpft hat. Kein Zweifel, dass er die „Charlie“-Satiren ohne Wenn und Aber verteidigt hätte.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2015)

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