Späte Rückkehr in den tiefen Süden: „To Kill a Mockingbird II“

Nach dem Welterfolg mit ihrem Debütroman „Wer die Nachtigall stört“ verstummte die US-Autorin Harper Lee. Nun kommt ein Nachschlag.

Für den 14. Juli, an dem ich seit vielen Jahren sowohl den Sturm auf die Bastille als auch den Geburtstag der Schwiegermutter feiere, habe ich mir in den Kalender für 2015 Folgendes in großen Lettern eingetragen: „Go Set a Watchman: A Novel“.

Ich hoffe, es wird ein schwüler Sommertag samt gewaltigem Gewitter sein, denn nur so kann sich ein wahrer Fan darauf einstimmen, dass nach genau 55 Jahren Pause das zweite Buch der fantastischen Südstaaten-Dichterin Harper Lee erscheinen wird.

Mit ihrem Debütroman „To Kill a Mockingbird“ wurde die 34 Jahre alte Autorin einst weltberühmt. Sie gewann 1961 mit dieser eindringlichen Schilderung des damals noch extrem ausgeprägten Rassismus in ihrer Heimat Alabama den Pulitzer-Preis.

Danach arbeitete sie mit Truman Capote an der Aufarbeitung des Mordes an einer Farmerfamilie: Der Thriller „In Cold Blood“ begründete das Genre der Faction-Prosa. Capote vergaß bei der Veröffentlichung von „Kaltblütig“ 1965 prompt zu erwähnen, welch großen Anteil Harper Lee, mit der er seit ihrer Kindheit befreundet war, an der Entstehung des Buchs hatte. Beide Romane wurden erfolgreich verfilmt. Von „Wer die Nachtigall stört“ wurden bisher mehr als 40 Millionen Exemplare verkauft, jedes Jahr kommt eine weitere Million dazu.

Die Autorin hat wohl einen Nerv getroffen in jener Zeit, als die USA ein Gefühl für Emanzipation bekamen. Ein integrer Anwalt verteidigt in Maycomb einen Afroamerikaner, der zu Unrecht der Vergewaltigung einer Weißen bezichtigt wird. Das Buch gehört zum Kanon der US-Literatur. Es trifft anscheinend noch immer Sensibilitäten.

Nach ihrem Erstling aber verstummte Harper Lee. Sie fühlte sich ganz einfach überwältigt. Ein solches Buch schreibt man nur einmal. Es ging ihr wie dem russischen Genie Nikolaj Gogol. „Die toten Seelen“ reflektierten die Stimmung Russlands in den maroden Jahrzehnten nach den Napoleonischen Kriegen. Der erste Teil des als Trilogie geplanten Werks erschien 1842. Den zweiten Teil vernichtete der Autor kurz vor seinem Tod 1852.

Vielleicht hatte er recht. Wer ist schon an den drei Musketieren zehn oder zwanzig Jahre danach interessiert? Wer möchte Heidi als Erwachsene kennen lernen? Nein, die Fortsetzung ist viel zu oft die zweite Wahl.

Bei Harper Lee kommt hinzu, dass es sich bei „Go Set a Watchman“ nicht um eine Novität handelt, sondern um ein Manuskript, das sie vor ihrem Erfolgsroman geschrieben hat. Ihre Anwältin stöberte es auf. Offenbar sei es der erste Entwurf von „To Kill a Mockingbird“, meint Wieland Freund in der Tageszeitung „Die Welt“.Der Verlag hat es abgelehnt und dazu geraten, den Roman aus der Perspektive eines Kindes zu schreiben, nicht aus der Retrospektive einer erwachsenen Erzählerin. Die Lektüre könnte also enttäuschen. Mehr Brisanz würde wohl „Kaltblütig. Teil II“ versprechen: „Wie Harper Lee Capotes Mordfall sah.“

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.