Amazons neuer Anachronismus

Amazon steps up battle over NY Times workplace probe
Amazon steps up battle over NY Times workplace probe(c) AFP (EMMANUEL DUNAND)
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Onlinehändler Amazon ist der Schrecken klassischer Buchgeschäfte. Nun eröffnet er selbst eines in Seattle.

Finden Sie den Fehler: Ein Buchgeschäft. Regale bis zur Decke. Menschen, die das haptische Erlebnis des Blätterns lieben. Und über dem Eingang prangt das Logo des Internetriesen Amazon. Man kennt ihn als Feind des klassischen Buchhandels. Als Sargnagel für eine mit der Aura des Altmodischen behaftete Branche, die Literatur lieber gebunden als auf matter Kindle-Oberfläche anbietet.

Diesen Dienstag wurde der Anachronismus Realität: Amazon eröffnete sein erstes „echtes“ Buchgeschäft in Seattle. Sieben Tage pro Woche – fast wie beim virtuellen Shoppingerlebnis – sollen Kunden dort in „tausenden“ Titeln blättern, Millionen weitere vor Ort bestellen können, so der Konzern.

Was steckt dahinter? Nostalgische Gefühle für eine Zeit, die man selbst mit zu Grabe getragen hat? Ein Wolf, der im Schafspelz um die Gunst technologieferner Schäfchen buhlt? Hardcover-Aficionados würden Amazons Schachzug wohl als Farce bezeichnen. Noch dazu, wenn der Konzern just an dem Standort aufsperrte, an dem US-Branchenriese Barnes & Noble 2011 das Handtuch geworfen hatte. Nicht zuletzt hatten auch diesen Laden die Preispolitik und das Überangebot des Mitbewerbers in die Knie gezwungen.

Was nach einem Treppenwitz der Geschichte oder Darwinismus in Reinform klingt, ist laut Konzern der logische nächste Schritt: Man wolle die Vorteile des Online-Einkaufs und des stationären Handels verknüpfen, heißt es. So sollen die Preise im Geschäft und im Internet gleich sein. Neben jedem Werk werden Kärtchen mit Amazon-Bewertungen platziert. Daneben könne man die Lesegeräte des Unternehmens wie den Kindle testen.

„Schön . . . und weiter?“, ist man versucht zu fragen. Das klingt zwar alles nett, aber neben hausgemachten Meilensteinen wie einem E-Book, das das Leseverhalten von Millionen Menschen umgedreht hat, nicht wie der große Wurf.

Dass Amazon das klassische Buchgeschäft für sich entdeckt, ist aber laut Kai Hudetz vom Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) „nur vermeintlich anachronistisch“. Hudetz verweist auf die einige Jährchen zurückliegende Ansage von Amazon-Gründer Jeff Bezos, er würde gern Läden betreiben, wisse aber leider nicht, wie das gehe. Seattle, so Hudetz, sei nur der Testballon, bevor man die wirklich innovativen Technologien auffährt. Quasi als Trainingsplatz im direkten Umgang mit dem fremden Wesen, dem Kunden. „Da will man nicht gleich am ganz großen Rad drehen.“

Man darf gespannt bleiben, wie sich der Feldversuch entwickelt. Und ob er andere Internetgiganten zu ähnlich nostalgischen Ideen inspiriert. Da wäre noch Spielraum: für ein Facebook-Café, in dem man seinen Freunden Komplimente machen kann, oder für ein von Google gesponsertes Auskunftsbüro für kuriose Fragen. Wie gesagt, man darf gespannt bleiben.

E-Mails an: antonia.loeffler@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2015)

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