Marginalie: Ein Sarazene warnt vor dem Ruf der Muezzins

Thilo Sarrazin polemisiert gegen Deutschlands Immigrationspolitik. „Spiegel“ und „Bild“ assistieren.

Berlin beheimatet ein interessantes Völkergemisch. Ehe dort die mittelalterliche Stadt Cölln entstand, zogen in Urzeiten germanische Stämme durch den Sand von Brandenburg, später wendische Zuzügler. Die slawische Silbe „Berl“ bedeutet „Sumpf“.

Auch Orientalisches bietet die Stadt. So wie das Telefonbuch Auskunft über Wiener Blut gibt, kann man auch aus Berliner Namen Schlüsse ziehen. Heißt man zum Beispiel Thilo Sarrazin, wie der streitbare Bundesbank-Vorstand und Ex-Finanzsenator, stammt man wahrscheinlich aus einer sabäischen Familie, die über Afrika und Spanien nach Frankreich gezogen war. Mit dem französische Wort „sarrasin“ (arabisch-syrische Stämme) wurde im Mittelalter auch die zugewanderte moslemische Bevölkerung bezeichnet.

Von Frankreich aber ist es nur ein kleiner Sprung ins tolerante Berlin. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm lud die Hugenotten 1685 ein, die Berliner Wirtschaft zu beleben. Den Herrschern in Preußen waren Ex-Nomaden ebenso willkommen wie die übrigen fleißigen Handwerker, die von der Reaktion aus Frankreich vertrieben wurden. Sie wussten auch: „Ex oriente lux“, selbst wenn das einen ziemlichen Umweg bedeutete. Die Sabäer stammten aus dem Jemen, sie handelten mit Weihrauch. Da kommt man viel herum. Wahrscheinlich hat Herr Sarrazin auch Verwandte bei den Ägyptern, Karthagern, Tuareg und Spaniern. Dass er von Karl dem Großen abstammt, scheint gewiss. Gilt das nicht für uns alle?


Nein, meint Thilo Sarrazin, und zieht in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ eine klare Grenze. Für einen Vorabdruck aus dem brisanten Kapitel „Zuwanderung und Integration“ hat sich der sozialdemokratische Rebell das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ausgesucht. Unter dem radikalen leninistischen Titel „Was tun?“ werden dort die „Folgen einer missglückten Einwanderungspolitik“ debattiert. Im Massenblatt „Bild“, das ebenfalls am Montag eine Serie zum Vorabdruck begann, werden Sarrazins „drastische Thesen über unsere Zukunft“ viel plastischer angekündigt: „Deutschland wird immer ärmer und dümmer!“

Pardauz! Im Herbst 2009 hatte er noch das Literaturmagazin „Lettre International“ für seine Thesen benutzt und im Interview vor jener Gruppe von Einwanderern gewarnt, die „ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“. Das war damals ein Skandal. Jetzt also „Bild“-Niveau. Er mag den Ruf der Muezzins nicht. Der Ton des Buches ist polemisch. Sarrazin hält die Einwanderung der Gastarbeiter für einen „gigantischen Irrtum“, kritisiert, „dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenten Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen“.

Als Kontrast werden Frauen türkischer Herkunft genannt, sie haben eine doppelt so hohe Geburtenrate. Das stört einen, der meint, dass die Grenze Europas „ganz klar am Bosporus zu ziehen“ sei. Immerhin bis Stambul, das ist ein Fortschritt. Als erste Sarazenen sich nach Europa aufmachten, verlief die Grenze wohl noch mitten durch die Lausitz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2010)

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