Als Keith Richards doch nicht zum Heer musste

Ob in einem Staat allgemeine Wehrpflicht besteht oder nicht, kann die Kultur prägen – siehe die (Swingin') Sixties in England und den USA.

Subtext

Kurz vor meinem 17.Geburtstag im November 1960“, schreibt Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards in seiner Autobiografie, „wurde verkündet, dass es vorbei war, Ende der Wehrpflicht. Ich weiß noch, dass man an jenem unschuldigen Tag in der Kunstschule beinahe so etwas wie ein allgemeines Aufatmen hören konnte (...) Nun hatte man plötzlich das Gefühl, zwei Jahre freizuhaben.“

„I'm free to do what I want any old time“, sang der noch nicht exmatrikulierte Ex-Wirtschaftsstudent Mick Jagger fünf Jahre später zu Richards' Begleitung. Man muss nicht sehr übertreiben, um zu behaupten, dass die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Großbritannien die „Blues Explosion“ katalysierte, die junge Kunstschüler wie die Mitglieder der Rolling Stones (und der Who, der Kinks etc.) damals erfasste und die in den Boom der britischen Popmusik mündete, der im Grunde bis heute anhält – und Devisen bringt.

Es sind keine zwei Jahre, die österreichische junge Männer „gewinnen“ würden, wenn die Wehrpflicht abgeschafft würde. Immerhin sechs Monate. Könnte das für die Popmusik – oder eine andere Kunstform – in Österreich einen ähnlichen Schub bedeuten? Wird man eine – etwaige – Abschaffung der Wehrpflicht in Österreich überhaupt als Befreiung empfinden? Oder nur übellaunig als Belastung der Arbeitslosenstatistik und der Universitäten interpretieren? Als Zumutung gar: Was sollen die armen Burschen jetzt mit der Zeit machen?

Wie stark es eine Gesellschaft und ihre Kultur prägt, ob ihre jungen Männer zum Heer müssen oder nicht, zeigt ein anderes Beispiel: In den USA wurde die allgemeine Wehrpflicht 1973 aufgehoben – nach Ende des Vietnam-Kriegs, in dem 45.000 Amerikaner wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion straffällig wurden. Man versteht die Hippie-Bewegung, man begreift das scheinbar triviale Musical „Hair“ nur, wenn man bedenkt: Die Menschen, die in Woodstock dem Krieg ihr „F.U.C.K.“ entgegenbrüllten, waren – zumindest die Männer – persönlich betroffen, sie mussten keine Betroffenheit heucheln. „What are we fighting for“, sang Country Joe McDonald danach, „I don't give a damn, next stop is Vietnam.“ Und: „Ain't no time to wonder why, we're gonna die.“ Das mag auch die seltsame Todesnähe vieler Songs dieser Zeit erklären, der Grateful Dead etwa (man höre nur den mantraartigen Refrain „You know he has to die“ auf „Anthem Of The Sun“).

Und es erklärt, warum die Proteste der US-Popkünstler gegen den Irak-Krieg vergleichsweise lahm waren. Der freiwillige Heeresdienst war und ist vor allem für die Unterschicht eine Option. So mussten nur wenige junge Männer der breiten Mittelschicht – die auch in den USA die Kultur trägt – befürchten, eingezogen und in den Irak geschickt zu werden. „It's déjà vu all over again“, sang John Fogerty 2004 über den Irak-Krieg. Man glaubte ihm sein Engagement, aber es klang distanzierter als 1970, als er mit Creedence Clearwater Revival „Run Through The Jungle“ gesungen hatte, über den Dschungel in Vietnam, der seiner ganzen Generation drohte. Bis sie von der Wehrpflicht befreit wurde.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2011)

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