Gedichte sind dauerhafter als das nächste Update

Der Nobelpreis für Tomas Tranströmer sollte der Lyrik Aufschwung geben. Sie wurde von der Verlagsbranche etwas vernachlässigt.

Und wieder ist es nicht Bob Dylan geworden! Dass der Nobelpreis für Literatur dem Barden seit Jahrzehnten verweigert wird (aus schwedischer Bosheit?), verärgert den mächtigen Pop-Flügel der Gegengift-Redaktion mindestens so stark wie die Ignoranz (aus Unvermögen?) gegenüber dem Erzählgenie Thomas Pynchon, den die Film- und Theatersektion hemmungslos verehrt. Aber in diesem Jahr kann man sich aufrichtig freuen über die späte Würdigung des reinen Dichters Tomas Tranströmer.

Vielleicht beginnt jetzt ein Boom der Poesie. Am Freitag nach eins war in der Weltstadt München noch nicht viel davon zu spüren. „Tranströmer?“, sagte die Buchhändlerin mit vorsichtiger Bewunderung, „die zwei Restexemplare haben wir sofort verkauft, aber der Nachschub lässt sicher noch zwei Wochen auf sich warten. Der ist nicht mehr auf der Backlist.“

Als Ersatzhandlung sichte ich das Regal mit Gedichtbänden. Es spiegelt Üppigkeit vor, rotes und blaues Leinen leuchten raus, doch im Grunde lagern dort nur Goethe, Rilke oder Gurke. Keine Mayröcker, kein Kolleritsch, keine Gerstl – nur miniatürliche Ausgaben von Eich und Tucholsky. Pound, Neruda, Murray oder gar große asiatische Kleinkünstler? Nichts zu erblicken. Dafür gibt es einen Tisch mit Paletten von Adonis-Bänden im Verbund mit anderen verstoßenen Favoriten. Also wird rasch ein Büchlein mit Versen aus dem Arabischen gekauft, man gönnt sich ja sonst nichts.

Dann aber tritt die Versuchung in Form eines E-Readers um 59,90 Euro heran. 2000 Bücher könne man darin speichern, lockt das Werbeplakat – Platz für tausende Gedicht-Nobelpreisträger, wenn man von Tranströmers Gesamtwerk ausgeht. Ist der zumindest elektronisch verfügbar? Ich weiß es nicht. Kurz war die Versuchung, nachschauen zu lassen, aber es siegte nicht die Technik, sondern die Sitte.

Gedichte darf man aus zerlesenen Reclam-Bänden vortragen (auch wenn zu Baudelaire und Brecht eher Leder, zu Hofmannsthal und Horaz besser Leinen passte). Man kann das im weißen Dreiteiler aus Kaschmir tun, die Krawatte hat am besten Blumenornamente. Es stört nicht, wenn man dazu Wein trinkt, und die Gesellschaft großherziger Damen ist unbedingt zu empfehlen. Aber niemals sollte der verderbliche Brauch einreißen, dass man die Verse vom Tablett liest. Gedichte sind für tausend Jahre gedacht, sie müssen dauerhafter als das nächste Update von Kleinstcomputern sein. Man macht auch keine Rendezvous per E-Mail aus. Und von der Buchhandlung meines Vertrauens erwarte ich mir, dass die Poetikabteilung fürs nächste Jahr festlich geschmückt wird. Sie ist die letzte Bastion wirklicher Leser.

Nächstes Jahr muss Thomas Pynchon gewinnen. Oder Bob Dylan. Oder eben irgendein großer Schwede, den es noch in Elchleder gibt.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2011)

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