Buch Wien – und dann Lesepause. Sind wir Illiteraten geworden?

Die gefüllten Regale als Hintergrund von TV-Interviewskönnen über die digitale Demenz nicht hinwegtäuschen.

Gestern ist sie zu Ende gegangen, die Buch Wien. Eine Woche lang ist das Lesen aktuell gewesen. Jetzt dümpelt es wieder vor sich hin. Lesen, was ist das? Der Prozentsatz der Österreicher, die es nicht sinnerfassend beherrschen, nimmt zu. Und es trifft nicht nur die Volksschüler.

Eine Woche lesen. Sind wir alle Illiteraten? Das Fernsehen bemüht sich, das Gegenteil zu beweisen. Ist auch Ihnen schon aufgefallen, dass Interviews fast immer gefüllte Bücherregale als Bildhintergrund haben? Nein, das hat nichts mit einer vermeintlichen Lesekultur der Befragten zu tun. Als ich mich vor vielen Jahren für ein Fernsehgespräch hinter meinen Schreibtisch setzen wollte, wies mir der Kameramann einen anderen Sessel zu – vor der Bibliothek. „Das gehört so, das ist viel besser“, sagte er. „Das ist der richtige Hintergrund!“ Die Buchtitel tun nichts zur Sache. Hauptsache, sie sind zahlreich und bunt.

Ich erinnere mich (und habe es oft geschrieben), dass ein österreichischer Spitzenpolitiker vor der Kamera behauptet hatte, er habe in seinem Leben nur ein Buch ausgelesen, und das sei Karl Mays „Schatz im Silbersee“ gewesen. Das war natürlich ein Scherz, ist dem Mann aber viele Jahre lang nachgehangen. Die oft zitierte digitale Demenz feiert nach wie vor Triumphe. Der Mainstream der Lektüre ist aus den Bestsellerlisten erkennbar.

Aber gibt es überhaupt einen literarischen Mainstream? Drei jüngst erschienene Sachbücher dürfen nebst anderen als Beweis dienen, dass öffentliche und veröffentlichte Meinung auch beim Büchermarkt Diskrepanzen zeigen. Mich wundert etwa nicht, dass der Erlebnisbericht „Deutschland im Blaulicht“, mit dem Untertitel „Notruf einer Polizistin“ und verfasst von einer Uniformträgerin, die selbst griechischen Hintergrund hat – dass dieser Bericht einer Streifenpolizistin aus Bochum bereits in der vierten Auflage erschienen ist.

Der Piper-Bestseller wagt es, anhand einer Unzahl von Beispielen zu behaupten, dass „die Zunahme von Rechtlosigkeit und Aggressivität in unseren Städten mehr als auffällig“ sei und „dass sich straffällige Personen mit Migrationshintergrund, vor allem junge Männer aus moslemisch geprägten Ländern, dabei besonders hervortun“. In der Tat: Die Menschen glauben solche Behauptungen aufs Wort, noch dazu, wenn sie aufgrund von Fakten dargestellt werden.

Gibt es einen Mainstream auch in der internationalen Politik? Den etwa, der behauptet, Wladimir Wladimirowitsch Putin sei böse und der Westen gut? Die gleichfalls 2015 bei Hoffmann und Campe erschienene Putin-Biografie von Hubert Seipel ist anderer Meinung. Sie schildert den russischen Präsidenten so, wie er offenbar ist: mit seinen politischen und menschlichen Zügen. Putin ist schuld? Nicht mehr als Obama, glaubt man Seipels Buch entnehmen zu können, der den Russen besser und intimer kennt als irgendein anderer westlicher Journalist. Er urteilt ohne Vorurteil.

Aber es geht auch anders. So, wie es Georg Tidl gleichfalls abseits des Mainstreams beweisen will. Der ultralinke Autor hat im Löcker-Verlag ein Waldheim-Buch herausgebracht: „Wie es wirklich war – die Geschichte einer Recherche“. Wie es wirklich war? „Was ist Wahrheit?“, fragte Pilatus. Das Tidl-Buch – in braunem Umschlag, wie es sich offenbar gehört – ist nicht einmal als Bildhintergrund für Fernsehgespräche geeignet.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2015)

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