Unterwegs in die Dritte Republik Österreich und die Pilatus-Frage

Nicht zuletzt der 22. Mai 2016 hat gezeigt, dass Geschichte ein interessanter Lehrgegenstand sein kann.

Fast ist es Anlass für einen Seufzer der Erleichterung: Das Haus der Geschichte wackelt. Nicht buchstäblich. Aber der Eröffnungstermin ist verschoben worden. Erleichterung, warum? Weil man sich offenbar noch immer nicht im Klaren ist, wann das Geschehen dieses Landes wirklich beginnt?

Oliver Rathkolb, der rote Zeitgeschichtler, hätte die österreichische Vergangenheit, deren Museum am Heldenplatz untergebracht wird, am liebsten mit dem Untergang der Monarchie 1918 beginnen lassen. Nun hat man sich doch zur Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgerungen. Überlegungen solcher Art scheinen gerade jetzt opportun, da ein neuer Teil der heimischen Historie evident wird. Vorhang auf für die Dritte Republik!

In der Tat: Seit gestern stehen wir an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Wir haben soeben den Auftakt erlebt. Die Erste und die Zweite Republik gehören, behaupten jetzt viele, seit dem 22. Mai 2016, endgültig der Vergangenheit an. Zum ersten Mal ist das gewählte Oberhaupt dieses Staates nicht von einer Koalitionspartei nominiert worden. Die Dritte Republik hat angefangen, daran ist nicht zu zweifeln. Und Rathkolb und Genossen werden möglicherweise dem Geschichtsmuseum einen weiteren Raum gewähren müssen – Raum in jeder Beziehung des Wortes. Es ist notwendig umzudenken. Die Zeiten haben sich geändert – und wir uns mit ihnen. Oder in ihnen?

Dass diese vermeintlich Dritte Republik, in die wir offenbar jetzt eintreten, wenige Tage nach dem Gedenken des Kriegsendes 1945 ihren Anfang nimmt, ist nicht nur bemerkenswert. Es gibt auch Anlass zu Fragen, die nicht nur für den Historiker wichtig sind, sondern für das Land.


Ist der Geschichtsunterricht in den Schulen dem Wissensstand von heute adäquat? Oder, anders gefragt, wie es schon Pontius Pilatus formuliert hat: Was ist Wahrheit? Ist sie wirklich, wie es heute immer wieder heißt, eine Tochter der Zeit? Ist Geschichte, die österreichische zumal, aber auch die der Welt, ein politisches Instrument, eines der zeitweiligen Indoktrination? Oder haben jene recht, die von sich behaupten, für sie sei der Geschichtsunterricht belanglos gewesen, uninteressant und langweilig?

In der Vorwoche ist der 71. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen begangen worden, in Gegenwart des Bundespräsidenten. Niemals vergessen, auch wenn mehr als sieben Jahrzehnte seit dem Ende des Holocaust vergangen sind. Der Vater meiner Mutter, ein Jude, hat das Naziregime nicht erlebt, auch nicht den Krieg mit seinen Hunderttausenden österreichischen Gefallenen. Ist es Zeit, zu Beginn der Dritten Republik zu fragen, ob das Geschichtsbewusstsein unserer Enkel und Urenkel eines ist, das wir uns vorstellen – oder ob es ihnen, diesen Enkeln und Urenkeln, nicht – sagen wir es offen: fad geworden ist?

Noch einmal: Nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Geschichte ist eine Tochter der Zeit. Wird man später einmal verstehen, warum Österreich sich mit den Sanktionen gegen Russland selbst ins Knie geschossen hat? Wie wird man begreifen können, warum sogar die Siegesnummer des Song Contest 2016 eine rein politische war? Wird man einmal wissen, warum TTIP zu Recht umstritten war?

Die Pilatus-Frage wird aktuell sein, solange es denkende Menschen gibt. Und sogar hierzulande ist daran kein Mangel – sollte man meinen.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2016)

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