Ein Kreuz über die nächste Wahl: Morgenröte im Abendland

Aus guten Gründen diskutierte der ÖVP-Klub im Parlament kürzlich über Werte und Leitkultur.

Dass in den Räumen des ÖVP-Parlamentsklubs am letzten Mittwoch eine Enquete über Werte und Leitkultur stattfand, hat nichts mit der österreichischen Bundespräsidentenwahl, kurz Hofburg-Wahl genannt, zu tun, die zwei Wochen später stattfindet. Wer hätte auch wissen können, dass die Republik zum Zeitpunkt, da wieder einmal und aus guten Gründen über ihre Werte diskutiert wurde, noch immer kein Staatsoberhaupt hat. Aber eines wusste man: dass die Diskussion über das, was in diesem Land als kulturelles Urprinzip bezeichnet werden kann, weitergeht, lange nachdem das Volk einen neuen Bundespräsidenten haben wird.

Die Krise, die sich schon lange vor dem Flüchtlingssturm abgezeichnet hat, hat mit einer Entwicklung zu tun, die längst absehbar gewesen ist – lange bevor Angela Merkels dumme (fast hätte ich geschrieben: saudumme) Bemerkung „Wir schaffen das“ die Grenzen leider nicht nur Deutschlands, sondern auch Österreichs geöffnet hat. Dass die deutsche Spitzenpolitikerin, die gern auch die mächtigste Frau Europas genannt wird (und sich gern so nennen lässt?), von dem viel verloren hat, was man als „political standing“ bezeichnen könnte, steht dabei auf einem anderen Blatt.

Oder hängt es – ich bitte, den trivialen Vergleich zu entschuldigen – an einer anderen Wand? Auf alle Fälle an jener des parlamentarischen ÖVP-Klubs. Vom Kreuz ist die Rede. Klubobmann Reinhold Lopatka hat im Verlauf der Debatte um die Leitkultur die Bedeutung dieses Glaubenszeichens betont: „Niemand kann verpflichtet werden auf das Kreuz. Aber wir erwarten, dass es akzeptiert wird“, zitierte ihn die „Presse“ mit dem Hinweis, dass er solches „in Richtung Zuwanderer“ gesagt habe, und ergänzte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Errungenschaften auch nur ansatzweise gefährdet werden.“


Ich bin ein Christ. Ich bin froh darüber, einer zu sein. In einer Welle fortschreitender Säkularisierung tun solche Worte eines prominenten Parteipolitikers wohl. In einer Zeit, da das früher so gern so genannte christliche Abendland verdächtigt wird, nur mehr als Formel zu gelten, die in ihrer Bedeutung gegenteilig wirkt: Im Morgenland, dem Osten, geht die Sonne auf, und im Abendland, dem christlichen, dämmert sie dahin.

In das Problem hat sich sogar die Wahlpropaganda eingeschaltet. „So wahr mir Gott helfe“ hat Norbert Hofer, der freiheitliche Präsidentschaftskandidat, auf etliche seiner Wahlplakate drucken lassen. Das war nicht nur unnötig, das ähnelte auf anderer Ebene der Dummheit Angela Merkels. Der liebe Gott hat als Slogan nichts verloren und ist in der Werbung falsch platziert.

Norbert Hofer hat als Wunschdenken manifestiert, was er am Abend des 4. Dezember erhofft: Die ihm genehme Ergänzung der Gelöbnisformel, die er als Wahlsieger sprechen würde. Würde. Denn mit dem Konkurrenten, dem Universitätsprofessor Alexander Van der Bellen, scheint es pari zu stehen. Wenn es je ein Kopf-an-Kopf-Rennen gegeben hat, wird es dieses sein: ein Kandidat, der unter anderem mit seinem vermeintlichen Christentum um Stimmen wirbt, und der andere, der nicht zuletzt über eine gewisse Popularität verfügt, nicht religiöse, wohlgemerkt.

„Das Kreuz mit den Werten“ titelt der „Standard“ eine Glosse. Das Kreuz mit dem Kreuz, könnte man sagen, mit dem christlichen Abendland. Ich warte auf die Morgenröte. Das Rot ist nicht politisch gemeint.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2016)

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