Die Beschneidung als Kastration der Fantasie vom Leben im Paradies

Es fällt auf, dass in der jüngsten Diskussion um die Beschneidung deren psychoanalytische Aspekte praktisch gänzlich außer Acht blieben. Schade, gibt es doch dabei recht interessante Überlegungen.

Das Urteil einer deutschen Oberinstanz, welche die Beschneidung, also die Entfernung der Vorhaut, bei männlichen Kindern als Körperverletzung verbietet, führte zu eingehenden Diskussionen. Diese wurden jedoch vor allem entlang der Abwägung zwischen den Rechtsgütern der körperlichen Unversehrtheit und der freien Religionsausübung geführt.

Dabei sehen wichtige Vertreter der Psychoanalyse, angefangen bei Sigmund Freud, in der Beschneidung jüdischer Knaben eine der wesentlichen Unterschiede zwischen Christentum und Judentum und sogar den Ursprung des Antisemitismus.

Freud verstand die Beschneidung als abgemilderten und symbolischen Ersatz für die Kastration, als Ausdruck der Unterwerfung unter den Willen des Vaters. Weiterführend gedacht wird dadurch die Unterordnung unter das Vaterprinzip, unter das Gesetz, vollzogen und die ultimative Aufgabe des narzisstischen Prinzips gefordert.

Die Beschneidung ist die Kastration der Fantasie, das vorgeburtliche, paradiesische Leben fortsetzen zu können. Im Uterus ist der Fötus einzigartig – mit seiner Umwelt eins. Da ist noch keine Spur von den Realitäten und brutalen Herausforderungen des Lebens, der Notwendigkeit, sich ein- und unterzuordnen, die Krisen sexueller Entwicklung, Identifizierung und Orientierung zu bewältigen.

Durch die Evangelien wurde das Gesetz durch den Glauben ersetzt, die Beschneidung abgeschafft. Juden wurde der Vorwurf gemacht, dennoch hartnäckig am Gesetz ihrer Väter und damit auch an der Beschneidung festzuhalten. Damit bedrohten die Juden die narzisstischen Größenvorstellungen des Christentums, Jesus sei der Sohn Gottes und seine Lehre die wahre gewesen – eine narzisstische Kränkung, eine Demütigung, für welche die Juden für immer büßen müssen.

Die Forderung, die Beschneidung endlich aufzugeben – dies sei doch ein altertümliches Ritual, welches vielleicht einmal hygienische Hintergründe hatte, aber jetzt nicht mehr zeitgemäß sei – geht daher weiterhin in die gleiche und zugleich falsche Richtung. Das kindliche, narzisstische Glück der Vollkommenheit, Glückseligkeit und Nichtbeeinträchtigung soll nicht gestört werden – weder durch Beschneidung, noch durch Erziehung, Impfungen und Schulstress. Daher kommt auch das oft vorgebrachte Argument, Gott oder die Natur hätte dem Knaben die Vorhaut nicht gegeben, wenn der Körper damit nicht vollkommen wäre.

Das Ritual der Beschneidung medizinisch zu begründen führt daher in die falsche Richtung. Auch wenn heute zwischen einem Viertel und einem Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten ist und die Beschneidung heute als Prophylaxe gegen verschiedene Krankheiten gilt, von Gebärmutterhalskrebs bis Aids.

Die Berücksichtigung dieser psychoanalytischen Überlegungen machen allerdings so manches merkwürdige Argument und so manche mitunter irritierende Emotionalität in der Beschneidungsdiskussion besser verständlich.

Schlussendlich ist es noch ganz wichtig, von der Vorhaut-Beschneidung die Klitoris-Verstümmelung bei Mädchen zu unterscheiden, wie sie in einigen afrikanischen und arabischen Kulturen noch immer praktiziert wird. Diese ist eine Zerstörung des weiblichen Lustempfindens und als solche auch beabsichtigt. Die Entfernung der Vorhaut beim Knaben stört ja die Libido in keiner Weise.


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Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, Geschäftsführer der Wiener Psychoanalytischen Akademie, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group sowie Mitherausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2012)

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