Gnädige Lüge, grausame Wahrheit

Lebenslügen hier und anderswo.

Der Erzbischof sollte das höchste Amt der polnischen Kirche antreten. Gläubige, Klerus, die politische Führung füllten die Kathedrale. Dann die Überraschung: Verzicht, mit steinerner Miene. Der Vatikan hatte sein Gewicht in die Waagschale gelegt, den Rücktritt erreicht. Wut, Enttäuschung, Verständnislosigkeit im Dom. Der hohe Würdenträger jener Kirche, die wesentlich zur Beendigung der kommunistischen Zwangsherrschaft beitrug, hatte jahrelang mit dem kommunistischen Geheimdienst zusammengearbeitet. Vor seinem Gewissen rettete ihn wohl die gnädige Lüge, im Interesse seiner Kirche ein „kleineres Übel“ gewählt zu haben. So wie er verstecken sich Millionen hinter ähnlichen Lügen: „Was hätte ich anderes tun können? Ich stand unter Zwang, erfüllte nur meine Pflicht, schützte meine Familie, rettete meine Stellung.“ Ibsen, der Meister der grausamen Wahrheiten, in seiner Wildente: „Nehmen sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge und sie nehmen ihm zur gleichen Zeit das Glück.“

In Polen gehen zurzeit die Wogen hoch. Die neue Regierung hat ein Gesetz durchs Parlament gebracht. Dieses „Durchleuchtungsgesetz“ soll Polen von allen Ex-Kommunisten und ehemaligen informellen Mitarbeitern des Geheimdienstes säubern. An die 400.000 Menschen müssen eine Erklärung abgeben, ob sie mit dem früheren Geheimdienst zusammengearbeitet haben. Beamte, Mitarbeiter in Staatsbetrieben, Wissenschafter, Richter, Rechtsanwälte, Journalisten. Wir nannten das nach 1945 die Entnazifizierung.

Polen ist bisher das einzige Land unter den frei gewordenen kommunistischen Diktaturen, das diese Selbstreinigung angeht. In den anderen Ländern des ehemaligen „real existierenden Sozialismus“ hat es nur zögerliche Schritte gegeben. In Deutschland, in Ungarn, in Slowenien, in der ehemaligen Tschechoslowakei gibt es noch keine umfassende und geplante Abrechnung mit den Schuldigen der damaligen Verbrechen. Die grausame Wahrheit bleibt in der fest verschraubten Büchse der Pandora. Tausenden von Tätern wird die gnädige Lüge, der Selbstbetrug, nicht zerstört. Macht erst die grausame Wahrheit ein Land frei? Haben diese Länder die Aufgabe der Selbstreinigung von kommunistischen Tätern und die Rückgabe des Geraubten noch vor sich? Die Erfahrung unserer Heimat ist hier eindeutig. Nach der Entnazifizierung erlahmte der Eifer und versiegte nach dem Staatsvertrag 1955 zur Gänze. Wir waren alle „das erste Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsstaates“, die Alliierten hatten uns das Schwarz auf Weiß gegeben. Mit dieser Lebenslüge lebte es sich bequem bis in die 80er-Jahre. Die Rückgabe des geraubten Gutes der vertriebenen jüdischen Mitbürger wurde eingestellt. Aber die Generation der Enkel gab sich damit nicht zufrieden, die Wahrheit holte uns ein. Die Beurteilung der Schuld durch die Enkel war dann wesentlich härter als durch die Zeitgenossen.

Man hat die Lebenslüge so lange unversehrt gehalten, als noch ein Großteil der sich dahinter versteckenden Schuldigen am Leben war. Der Wahrheit ist aber nicht zu entrinnen. Den richtigen Zeitpunkt für die Suche und die Abrechnung bestimmt die Gesellschaft in jedem betroffenen Land selbst. Je später, umso schmerzhafter!

Univ.-Prof. Andreas Khol war Nationalratspräsident.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2007)

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