Unrecht im Gewand des Rechts

Wann Widerstand Pflicht und Gehorsam ein Verbrechen wird.

Morgen jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem der 2. Weltkrieg mit seinen Hekatomben an Opfern und dem Holocaust begann. Zu Recht sind die Zeitungen voll mit Berichten und Analysen, strahlen ORF und andere Qualitätssender Dokumentationen darüber aus. Auch die von Kriegen Verschonten sollen sich damit auseinandersetzen, Ursachen und Verantwortliche kennenlernen, daraus ihre Schlüsse ziehen.

Im Wiener Nestroyhof wird an diesem Erinnerungstag eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: „Was damals Recht war – Soldaten und Zivilisten vor den Gerichten der Wehrmacht“. Auch diese Ausstellung wird so wie die berühmte „Wehrmachtsaustellung“ viel Kritik auf sich ziehen. Viele sind – auch ich noch als Student an der Universität Innsbruck – von damals weitgehend unbestrittenen Sätzen geprägt worden: „Was damals Recht war, muss auch heute noch Recht bleiben. Deserteure sind eidbrüchige, feige, ehrlose Gesellen, die ihre Kameraden und ihr Volk im Stich lassen.“ Damit räumt diese Ausstellung auf. Deserteure der Wehrmacht waren mutig und konsequent, sie leisteten den ihnen möglichen Widerstand, und vor allem: Sie waren im Recht. Das typisch nationalsozialistische Recht war nie Recht, sondern blieb immer Unrecht.

Die Militärgerichtsbarkeit im NS-Staat hat lange Zeit nicht jene kritische Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient. Militärgerichtsbarkeit ist immer problematisch und bedarf der schärfsten öffentlichen Kontrolle. Im NS-Staat wurde sie bald eines der wirksamsten Werkzeuge der planmäßigen Verfolgung und blutigen Rache an Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersfühlenden. Viele Strafrichter wurden zu Helfershelfern der wirklichen Verbrecher, der Diktatoren. Dennoch wurden Richter lange milder beurteilt als andere. Das öffentliche Bewusstsein war und ist von der Aura der Justiz beeindruckt – Recht und Rechtsprechung sind im Denken und Fühlen der Menschen untrennbar verbunden, der Richter verkörpert das Recht. Aber selbst im Gewand des Rechts wird Unrecht nicht zu Recht.

Jeder Jurist hat mit der Frage zu tun, wie Recht zustande kommt, was Recht ist. Alles, was das Parlament beschließt, alles was Richter „rechtsprechen“? Oder sind Gesetzgeber und Richter an eine Rechtsordnung gebunden, die über dem gesatzten Recht steht, aus dem Naturrecht, einem kategorischen Imperativ der Vernunft oder einem göttlichen Recht kommt? Die Befassung mit dem Rechtssystem des Nationalsozialismus hat mich zum Naturrechtler gemacht. Daher bin ich auch für einen Gottesbezug in einer europäischen und österreichischen Verfassung eingetreten. Der Gottesbezug macht die Grenzen des staatlichen Gesetzgebers deutlich. So hat es Papst Leo XIII. im 19. Jahrhundert schon ausgedrückt: Wenn staatliches Recht zu Unrecht wird, dann ist Widerstand Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2009)

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